Artikel14. März 2024

Willkommen? Die 10 besten Schweizer Dokumentationen zum Thema Migration

Willkommen? Die 10 besten Schweizer Dokumentationen zum Thema Migration
© CINEWORX

Die Schweiz ist traditionell ein Einwanderungsland. Spätestens seit der Schweizer Film in den 1960ern eine Erneuerung erfuhr, beobachten Schweizer Filmschaffende die nationale Migrationspolitik und deren Folgen. Zum Kinostart von «Gefangene des Schicksals» haben wir die 10 besten Schweizer Dokumentationen zum Thema Migration für dich ausgewählt. Fertig zum Deep Dive!

von Irene Genhart

1. «Siamo Italiani» (1964)

Darum geht’s: Der Filmemacher Alexander J. Seiler beobachtet die Einreise italienischer Gastarbeiter:innen in die Schweiz. Er begleitet sie danach durch ihren Alltag und gibt ihnen – die damals noch relativ neue Methode des «direct cinema» anwendend – auch selber das Wort.

Sehenswert weil: In der Schweiz der 1960er-Jahre war vieles anders als heute (und einiges erstaunlicherweise ganz ähnlich). Die Wirtschaft boomte, doch es fehlte an Arbeitskräften. Man holte diese aus dem Ausland: Männer, manchmal auch Frauen, vorwiegend aus dem Süden Italiens, wo es an Verdienstmöglichkeiten mangelte. Gekommen sind allerdings, wie Max Frisch das 1965 treffend formulierte, nicht «Arbeitskräfte», sondern «Menschen». Alexander J Seiler hat ihnen mit seinem Film Namen, Gesichter und eine Stimme gegeben und die pensioniert in ihre Heimat Zurückgekehrten 2002 erneut vor die Kamera gebeten. Dieser Film heisst: «Il vento di settembre».

2. «La bonne conduite» (1999)

© JMH

Darum geht’s: Ein Film über eine Fahrschule, in dessen Fokus fünf Lehrer:innen-Schüler:innen-Paare unterschiedlicher Nationalität stehen. Jean-Stephane Bron hat sich zu ihnen ins Auto gesetzt und dabei Erstaunliches erfahren. Etwa, dass eine mehrfach durch die Fahrprüfung gerasselte Schweizerin neben ihrem buddhistischen Fahrlehrer zur inneren Harmonie findet und der afghanische Migrant der Fahrlehrerin während der Stunde alle seine Sorgen anvertraut.

Sehenswert weil: Jean-Stéphane-Brons kurzweiliger Dokumentarfilm punktet bereits mit seinem einmalig pointierten Originaltitel. Abgesehen davon bringt die lockere Art, in der Bron vom Autorücksitz aus Fragen stellt, vieles an den Tag, was in einem Face-to-Face-Interview kaum derart direkt formuliert würde. Und man erfährt: Eigentlich können alle miteinander. Selbst der Waadtländer, der seinen indischen Fahrschüler mit rassistischen Sprüchen eindeckt, gibt an, diesen zu mögen.

3. «La forteresse» (2008) | «Vol spécial» (2011) | «L’abri» (2014)

Darum geht’s: Der Westschweizer Fernand Melgar hat von 2008-2014 drei Dokumentarfilme um Institutionen realisiert, in denen (auch) Personen mit Migrationshintergrund verkehren. «La forteresse» spielt in einem Empfangszentrum in Vallorbe und zeigt Asylbewerber, die einen Antrag auf Aufnahme als Flüchtling gestellt haben. «Vol spéciale» spielt in der Genfer Haftanstalt Frambois und erzählt von Sans Papiers, die auf ihre Abschiebung warten. «L’abri» spielt in einer Notschlafstelle in Lausanne, deren Angestellte jeden Abend entscheiden müssen, wem sie für eine Nacht Unterschlupf gewähren

Sehenswert weil: Fernand Melgars Trilogie kommt nüchtern daher, zielt aber direkt auf die Brennpunkte der Schweizer Asyl-, Migrations- und Sozialpolitik. Die drei Filme stehen in einer humanistischen Tradition. Wie schon in Seilers «Siamo italiani» verhelfen die Filme Menschen zu einer Stimme, die in der Gesellschaft, in der sie sich befinden, keine haben. Man kann Melgars fesselnde Filme auch als mutige politische Manifeste lesen.

Schaue «La forteresse»

Schaue «Vol spécial»

Schaue «L’abri»

4. «Neuland» (2014)

Darum geht’s: Die Protagonist:innen kommen aus Afghanistan, Kamerun, Serbien, Venezuela und vielen anderen Ländern. Sie sind jung und haben eine oft lange und traumatische Odyssee hinter sich. Nun aber sitzen sie zusammen in einer Stadt Basler Integrationsklasse, wo sie binnen zweier Jahre die Sprache und Kultur der Schweiz kennenlernen sollen. Der Lehrer Christian Zingg weist ihnen dabei den Weg und gibt dabei sein Bestes, ihnen den Einstieg in das Berufsleben und die Gesellschaft zu ermöglichen. Das ist allerdings nicht immer einfach.

Sehenswert weil: Anna Thommen hat ihre Protagonist:innen während zwei Jahren begleitet. Ihr Film kommt kommentarlos daher und verzichtet auf künstliche Dramatisierung ebenso wie auf Idealisierung. «Neuland» vermittelt Einblicke in den Alltag einer speziellen Schule ebenso wie in die Gefühlslage und persönliche Situationen seiner Protagonist:innen. Er zeigt eindrücklich, dass manchmal bereits kleine Hilfestellungen etwas bewirken, stellt aber auch fest, dass selbst ein erfahrener Lehrer wie Zingg bisweilen an (seine) Grenzen gerät.

5. «Iraqi Odyssey» (2014)

Darum geht’s: Bärtige Männer, verschleierte Frauen, Krieg, Bomben und verwüstete Städte: Das sind Bilder aus dem Irak Anfang der 2010er-Jahre. Ihnen gegenüber stellt Samir ebenda entstandene Aufnahmen aus den 1950er/60er-Jahren. Sie zeigen westlich gekleidete Frauen und elegant gekleidete Männer in Bagdad, das damals eine moderne Grossstadt und Lebensmittelpunkt seiner Familie war. Dazwischen verortet er das Schicksal seiner Familie, deren Mitglieder heute verstreut zwischen Auckland, Moskau, New York, London und Zürich leben.

Sehenswert weil: Samirs – eigentlich: Samir Jamal Aldin – persönlicher Zugang zur Geschichte seiner eigenen Familie eröffnet Perspektiven, die Aussenstehenden für gewöhnlich verborgen bleiben. Sein Film steht repräsentativ für das Schicksal des irakischen Mittelstands, der sich seit mehreren Generationen in der eigenen Heimat nicht mehr zuhause fühlt.

6. «Raving Iran» (2016)

Darum geht’s: Susanne Regina Meures begleitet zwei iranische DJs, die in der Wüste unter gefährlichen Umständen einen letzten Rave steigen lassen. Zurück in Teheran versuchen die beiden, ein illegal entstandenes Musikalbum zu vertreiben, wobei einer von ihnen auf einer Party verhaftet wird. Sozusagen in letzter Sekunde rettet sie eine Einladung an die Zürcher Street Parade aus der Bredouille. Ihre euphorischen Überlegungen, sich allenfalls in den Westen abzusetzen, weichen in der Schweiz alsbald der Ernüchterung.

Sehenswert weil: Susanne Regina Meures hat die in Iran spielenden Teil von «Raving Iran» ohne offizielle Dreherlaubnis und oft heimlich mit einer Fotokamera und einem iPhone gefilmt. Die Gesichter der Freunde der beiden Protagonisten sind im Film verpixelt. «Raving Iran» vermittelt einmalige Einblicke in das heimlich brodelnde Kulturleben eines Staates, dessen religiösen Führer jegliche Unterwanderung durch westliche Kultur zu verwehren versuchen.

7. «Willkommen in der Schweiz» (2017)

Darum geht’s: Im Sommer 2015 kommen 40‘000 Geflüchtete in die Schweiz. Während die meisten Gemeinden eilig Unterkünfte bereitstellen, weigert sich Andreas Glarner als damaliger Gemeindeammann der Aargauer Gemeinde Oberwil-Lieli, die dem Dorf zugeordneten Geflüchteten aufzunehmen. Die Tochter eines lokalen Gemüsebauers zieht daraufhin zusammen mit der mit der IG Solidarität gegen Glarners Abwehr-Politik zu Felde.

Sehenswert weil: Sabine Gisiger erörtert ausgehend von den Ereignissen in Oberwil-Lieli exemplarisch die unterschiedlichen politischen Positionen und Meinungen betreffend Migration und Flüchtlingsfrage in der Schweiz. Ihr Film besteht wie ein klassisches Drama aus fünf Akten, ist mit Choreinlagen unterlegt und reichert den gegenwärtigen Diskurs mit Verweisen auf historische Momente wie die Grenzschliessung im 2. Weltkrieg oder die Schwarzenbach-Initiative an. Er ist im Tonfall nüchtern, lässt das humanistische Engagement der Regisseurin aber durchschimmern.

8. «Eldorado» (2018)

Darum geht’s: Der 1941 geborene Markus Imhoof erlebt als Kind, wie seine Familie ein «Rotkreuz-Kind» aufnimmt, das aufgrund veränderter Gesetzeslage die Schweiz aber alsbald wieder verlassen muss. 70 Jahre später verbringt er zusammen mit dem Kameramann Peter Indergand zehn Tage auf einem Rettungskreuzer vor der libyschen Küste und beobachtet, wie Geflüchtete aus dem Mittelmeer gezogen werden.

Sehenswert weil: 38 Jahre nachdem sich Markus Imhoof im Spielfilm «Das Boot ist voll» intensiv mit der der Schweizer Flüchtlingsproblematik während des 2. Weltkrieges auseinandersetzte, greift er die Migrationsthematik nochmals in einem Dokumentarfilm auf. Alte Briefe und Fotos sowie der imaginäre Dialog mit dem Flüchtlingskind seiner Kindheit werden dabei zum Ausgangspunkt genereller Überlegungen, die sich Imhoof bezüglich Thema Flucht und Migration stellt. Und sei es nur diese, ob ein Boot irgendwann tatsächlich voll, oder gar übervoll ist.

9. «Arada» (2020)

Darum geht’s: Mustafa, Vedat und Duran haben jahrelang in der Schweiz gelebt, oder sind da gar aufgewachsen. Doch sie haben sich nicht einbürgern lassen, sind strafffällig geworden und wurden in das Land ihrer Herkunft – die Türkei – ausgewiesen. Hier versuchen sie, Tritt zu fassen. Doch sie vermissen ihre zurückgelassenen Familien und Freunde. Halten ihre schweizerische Identität hoch und hoffen darauf, eines Tages vielleicht doch wieder in das Land zurückzukehren, das nicht offiziell, aber doch gefühlt, ihre Heimat ist.

Sehenswert weil: «Arada» bedeutet im Türkischen «(da-)zwischen», an diesem Punkt setzt der Dokumentarfilm von Jonas Schaffter auch an. Er porträtiert drei Männer, die aufgrund der in der Schweiz 2016 in Kraft getretenen Abschiebungsinitiative in die Türkei ausgewiesen wurden. Im Fokus des diskret beobachtenden und feinfühligen Films stehen allerdings nicht die von ihnen begangenen Straftaten, sondern die Frage, welche Identitäten Menschen entwickeln, die zwischen zwei Kulturen stehen.

10. «Die Anhörung» (2023)

Darum geht’s: Zwei Frauen und zwei Männer, die in der Schweiz Asyl beantragt haben, spielen zusammen mit Mitarbeitenden des SEM noch einmal die Anhörung durch, bei der sie die Gründe für ihre Flucht schildern. Die vier Migrant:innen erzählen dabei von tatsächlich Widerfahrenem, die Menschen, die sie befragen, sind aber andere als in Wirklichkeit. Im zweiten Teil des Films werden die Rollen von Fragenden und Befragten und somit auch die Machtverhältnisse umgekehrt.

Sehenswert weil: Lisa Gerig bedient sich in «Die Anhörung» der Methode des Reenactments – der möglichst genauen Nachstellung tatsächlicher Ereignisse – wobei ein Teil ihrer Protagonist:innen sich selbst spielen. Damit bewegt sich ihr Film streng genommen an der Grenze zwischen Fiktion und dokumentarischer Form. Tatsächlich vermittelt er faszinierende, zugleich aber auch nachdenklich stimmende Einblicke in Verfahren, die normalerweise unter Geheimhaltung stattfinden.

«Die Anhörung» läuft seit Januar im Kino.

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