Artikel6. März 2024

Filmwissen: Jenische im Schweizer Film: Eine Spurensuche

Filmwissen: Jenische im Schweizer Film: Eine Spurensuche
© Xenix Film | Szene aus «Lubo»

Mit «Jakobs Ross», «Lubo» und «Ruäch» sind in den letzten zwei Jahren gleich drei Schweizer Filme mit und über Jenische entstanden. Das klingt nach Boom, ist wohl vor allem aber der Tatsache zu verdanken, dass die Schweiz die Jenischen erst 1995 als nationale Minderheit anerkannte – und deren Geschichten nur langsam den Weg auf die Leinwand finden. Wir begeben uns auf eine Spurensuche in die Vergangenheit und Gegenwart des Schweizer Films.

von Irene Genhart

Zum Einstieg: Ein kurzer historischer Exkurs

Hätte man vor 1992 einen Artikel über Jenische im Schweizer Film zu schreiben versucht, hätte man bei der Recherche wohl weitgehend im Dunkeln getappt. Was weniger am Schweizer Film liegt, als an dem Begriff «Jenisch»: Zwar gibt es in Mitteleuropa seit rund 500 Jahren Menschen, die sich selber als Jenische bezeichnen. Sie treten als Vagabunden und Fahrende in Erscheinung, lebten und leben noch heute oft unstet.

Sie hatten früher meist keinen Heimatort und somit auch keine bürgerliche Pflichten und Rechte. In der Schweiz galten sie lange Zeit als unzivilisiert und wurden weggewiesen. Ab 1850 dann begann man in der Schweiz Heimatlose und somit auch Jenische einzubürgern. Ab 1926 wurden jenische Kinder ihren Eltern im Rahmen der Aktion «Kinder der Landstrasse» systematisch weggenommen und zwecks Umerziehung zur Sesshaftigkeit in anderen Familien platziert.

Offiziell von Jenischen war bis dahin allerdings kaum die Rede. Schweizer bezeichneten Jenische entsprechend ihrer Tätigkeiten als «Chorbeni», «Spengler», «Kessler», «Chacheler»; oder sprach von ihnen in der französischsprachigen Schweiz als «Manouches» und in der Deutschschweiz als «Fecker».

Szene aus «Kinder der Landstrasse»

Kinder der Landstrasse

Das begann sich zu ändern, als es den Jenischen mit Unterstützung der Medien 1973 gelang, die Aktion «Kinder der Langstrasse» zu stoppen. 1975 erkannte der Kanton Bern die Jenischen als erster Kanton als eigenständige Volksgruppe an, seit 1995 sind Jenische in der Schweiz als nationale Minderheit anerkannt. Seit den 1980er-Jahren bemühen sich diverse Organisationen um die Anliegen und Rechte der Jenischen in der Schweiz, genaue Zahlen über in der Schweiz lebende Jenische werden aktuell aber nicht erhoben.

Mit der Aktion «Kinder der Landstrasse», bzw. mit deren von grossem Medienecho begleiteten Ende begann sich die Geschichte der Jenischen in die Annalen des Schweizer Films einzuschreiben. Unter dem Titel «Kinder der Landstrasse» stellte Urs Egger 1992 einen Kinofilm vor, der basierend auf Berichten der von der Hilfsaktion Betroffenen die fiktiven Schicksale zweier Geschwister erzählt. Die beiden ziehen bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs mit ihren Eltern in die Schweiz, werden dort aber entführt und bei fremden Familien untergebracht. In der Folge hält sich der Film ans Schicksal von Jana, die mit vier Jahren auf einem Bauernhof landet, später in einem von Nonnen geführten Internat untergebracht wird und als Jugendliche adoptiert wird. Wobei sie sich selbst, je älter sie wird, desto intensiver mit der Frage nach der eigenen Identität auseinandersetzt.

«Kinder der Landstrasse» wurde 1992 am Filmfestival von Locarno uraufgeführt und hat, auch im Hinblick auf die politische Aufarbeitung der beschriebenen Ereignisse, ein breites Medienecho erfahren. Zeitgleich hat Oliver Matthias Meyer den Dokumentarfilm «Die letzten freien Menschen» realisiert, der im Rückgriff auf die Hilfsaktion «Kinder der Landstrasse» die Geschichte der Jenischen in der Schweiz erzählt und den Alltag der Fahrenden Anfang der 1990er-Jahre zeigt. Sowohl «Kinder der Landstrasse» wie «Die letzten freien Menschen» sind, kurz vor der digitalen Wende entstanden und heute leider etwas in Vergessenheit geraten.

Szene aus «Das gefrorene Herz» © Frenetic Films

Vorläufer: Fecker, Manouches und Konsorten

Tatsächlich tauchen Jenische schon in vor 1992 entstandenen Schweizer Filmen auf. Doch sie werden darin nicht als solche bezeichnet und sind demzufolge bei der Recherche nur auf Umwegen zu finden. Etwa indem man bei der Beschreibung von Filmen auf die Figuren und auf für Fahrende/Jenische typische Berufe achtet: Messerschleifer, Kesselflicker, Korb- und Stuhlflechter, Musiker, Schausteller, Zirkusartisten.

So etwa erzählt Xavier Koller im 1979 entstandenen «Das gefrorene Herz» die Geschichte zweier Landstreicher – eines Schirmflickers und eines Korbers –, von denen der eine den anderen am Morgen nach einer durchzechten Winternacht erfroren an der Grenze zum nächsten Dorf findet.

Villi Hermann lässt im zwei Jahre später entstandenen «Matlosa» seinen Protagonisten Alfredo mit seiner Familie jedes Wochenende aus der Stadt ins Tessiner Bergdorf zurückkehren, in dem er aufgewachsen ist. Hier hängt er verträumt den Erinnerungen an seine Kindheit nach, wobei wiederholt die Figur des Matlosa auftaucht: eines Strassenhändlers, der für Alfredo eine Art Vaterfigur war, den die Behörde wegen seines Vagabundendaseins aber des Landes verwiesen hatte.

Und Max Haufler erzählt in «Menschen, die vorüberziehen» von der Tochter eines Wanderzirkusdirektors, die sich im Wunsch sesshaft zu werden auf einen Bauernsohn einlässt. Nach dem tödlichen Unfall ihres Vaters ein Jahr später übernimmt sie aber den Zirkus. Der 1942 entstandene Film ist zweifellos einer der ersten Schweizer Filme, in denen Jenische vorkommen.

Szene aus «Unerhört Jenisch» © Frenetic Films

Ewig auf Achse

Mehr Beispiele finden sich in den letzten dreissig Jahren, in denen der Begriff Jenische zunehmend auch in der offiziellen Geschichtsschreibung Verwendung gefunden hat. Erstaunlicherweise sind in der Nachfolge von «Kinder der Landstrasse» vorerst allerdings nicht weitere Spielfilme entstanden, sondern diverse, zum Teil auch kürzere dokumentarische Arbeiten, die das Thema wieder und wieder aufgreifen.

Eine Erwähnung wert ist «Journale de Rivesaltes 1941-42» aus dem Jahr 1997. Die Westschweizer Filmemacherin Jacqueline Veuve erzählt darin aus dem Leben der Baslerin Friedel Bohny-Reiter, die im 2. Weltkrieg für das Schweizerische Rote Kreuz im Auffanglager von Rivesaltes im Einsatz stand, in welchem nebst spanischen und jüdischen explizit auch jenische Familien lebten.

Befeuert wird die Geschichte der Jenischen im Schweizer Dokumentarfilm in den 2010er-Jahren dann durch die Filmemacherinnen Karoline Arn und Martina Rieder. Die beiden haben mit «Jung und jenisch - Ein Jahr mit Schweizer Zigeunern auf Achse» (2010) und mit «Unerhört jenisch» (2017) gleich zwei Dokumentarfilme um Jenische auf die Beine gestellt. Im ersten begleiten sie vier junge Jenische, die zwar sesshaft aufgewachsen sind, als junge Erwachsene aber beschliessen, zukünftig als Fahrende zu leben. In «Unerhört jenisch» begeben sie sich in Begleitung von Stephan Eicher auf die Suche nach den jenischen Wurzeln der Schweizerischen und Alpenländischen Volksmusik.

Szene aus «Lubo» © Xenix Film

Die 2020er: Aufbruch – und zwei Spielfilme

Mit «Jung und jenisch - Ein Jahr mit Schweizer Zigeunern auf Achse» haben Arn und Rieder 2010 sozusagen die Vorlage geliefert für Andreas Müllers, Simon Guy Fässlers und Marcel Bächtigers zwölf Jahre später entstandenen «Ruäch». Der als Roadmovie aufgezogene Film begibt sich auf eine Reise durch ein verborgenes jenisches Europa, das sich von den staubigen Vororten Savoyens über die Schweiz bis in die Wälder Kärntens erstreckt. Er ist zeitweise spannend wie ein Krimi und vermittelt in einfühlsamer Annäherung an die Jenischen tiefe Einblicke in ihre heutigen Lebensweisen.

Und dann sind gut 30 Jahre nach «Kinder der Landstrasse» mit «Lubo» und «Jakobs Ross» jüngst gleich zwei neue Schweizer Spielfilme entstanden, in denen Jenische wichtige Rollen spielen. «Lubo» erzählt – auf die Aktion Kinder der Landstrasse verweisend – wie sich ein Jenischer, dem man die Kinder wegnimmt, den Rest seines Lebens gegen sein Schicksal auflehnt und seine Kinder wiederzufinden versucht. Und in «Jakobs Ross» verkörpert der von Max Hubacher gespielte Jenische Rico, der so verführerisch schön Schwizerörgeli spielt, dass auch dem Publikum das Herz schmilzt, sozusagen Elsies Traum eines Lebens von der Musik.

Während Giorgio Dirittis «Lubo» zum Teil in auf heftige Weise auf die Diskriminierung der Jenischen verweist, klingt in «Jakobs Ross» zwischendurch auch die ansteckende Lebensfreude Jenischer an. Und spätestens mit diesen zwei Filmen sollten die Jenischen im Kanon des Schweizer (Spiel-)Filmschaffens definitiv angekommen sein.

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