El Medina - Die Stadt Ägypten, Frankreich 1999 – 100min.

Filmkritik

Weggehen, um dasselbe wieder zu finden

Filmkritik: Sandra Walser

Philosophisch und mit präzisem Blick schildert "El Medina" die Odyssee eines jungen Ägypters, der nichtsmehr will, als Schauspieler zu werden. Sandra Walser unterhielt sich mit dem Regisseur Yousri Nasrallah über Selbstdefinition, Krieg und Geschlecht.

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Als illegaler Einwanderer in Frankreich erhofft sich der Ägypter Ali (Bassem Samra) die Erfüllung seines Traumes, Schauspieler zu werden. Stattdessen aber muss er sich aber als Schauboxer - buchstäblich - durchschlagen. Nach einem schweren Unfall verliert er sein Gedächtnis und wird nach Kairo zurückgeschafft, wo er niemanden mehr wieder erkennt. Diese Odyssee schildert Ko-Drehbuchautor und Regisseur Yousri Nasrallah nicht etwa pathetisch, sondern vielmehr philosophisch und mit einem ebenso kritischen wie präzisen und sensiblen Blick auf die Lebensumstände einer jüngeren, der Zukunft ungewiss entgegenblickenden Grossstadt-Generation. Der 1952 in Kairo geborene Nasrallah, Schüler des berühmten ägyptischen Regisseurs Youssef Chahine, hat vor "El medina" zwei Spielfilme, zwei Kurzfilme und einen Dokumentarfilm gedreht.

Gespräch mit Yousri Nasrallah:

Er zeichnet am liebsten gegen den Strich. Und so lässt Yousri Nasrallah in "El medina" seinen Protagonisten kurzerhand das Gedächtnis verlieren, damit dieser zu sich selbst finden kann. "Das ist wirklich pervers von mir", meint Nasrallah, auf diesen radikalen Weg angesprochen, grinsend. "Aber im Namen der Erinnerung und der Tradition wird man zum Automaten gemacht: Jedes Kind weiss, was es seiner sozialen Zugehörigkeit, der Religion, der Moral oder Familie entsprechend tun darf und was nicht. Genau dagegen wehrt sich Ali, und als er plötzlich nichts mehr weiss, kann er sich und sein Umfeld neu definieren. Schreiben Sie ja nicht, er fände zu seinen Wurzeln zurück. Scheiss auf Wurzeln, wir sind doch keine Bäume!", fährt es dem 48-jährigen Ägypter ungebremst über die Lippen.

Es verwundert nicht, dass sich Nasrallah praktisch im gleichen Atemzug als "ständiger Rebell" bekennt. Und das seit den Siebzigern, als er an der Universität zusammen mit anderen Studenten gegen die diktatorische und korrupte Regierung aufstand, welche das Land zu Grunde wirtschaftete. "Ich verbrachte die Zeit vom Kindergarten bis zum Abitur an der Deutschen Schule in Kairo. Sie war wie eine Enklave, eine äussere Welt existierte für mich kaum - so musste ich mich dann schliesslich umso mehr über die Zustände entrüsten.", versucht Nasrallah sein Engagement zu erklären. Als die Studentenbewegung bald einmal zu einer gut organisierten Gruppe anwuchs, stellte sich Nasrallah quer. Nicht ihrer Prinzipien wegen, wie er meint, sondern weil alles zu institutionalisiert geworden sei.

Ähnlich wie die Hauptfigur Ali in "El medina" verspürte auch Nasrallah plötzlich den Drang, schnellstmöglich von Kairo wegzugehen, "um nicht zu ersticken". In Beirut, wo ein Bürgerkrieg tobte, liess er sich schliesslich als Journalist nieder. "Ich habe gedacht, wenn ich das überlebe, dann verdiene ich das Überleben. Und ich glaube, ich habe jetzt tatsächlich die Stärke, mit jeder Stadt, jeder Realität und allen möglichen Zuständen fertig zu werden."

Realität und Fiktion. Hier wie da geht's ums Überleben. Und eine Reise. Im Film ist es Kairo-Paris, retour. Und dazwischen spielt sich ein kleiner Krieg ab: Ali - in Kairo des Mittelmasses überdrüssig, in Paris ausweislos - ist Guerilliero des Alltags. Wie in einer Seifenblase kämpft er sich auf der Suche nach ein bisschen Glück durchs Leben. Gefährlich dünn ist die Haut, die ihn umgibt, ihn zwar schützt aber zugleich auch vom prallen Leben trennt. Die Verlorenheit, die Einsamkeit als Lebenskonstante - wo immer er auch hingeht. Nasrallah führt aus: "Ich glaube, dass sich alle Städte dieser Welt gleichen. Man findet stets die gleichen Ruinen wieder, denen man anderswo entflohen ist, weil man sie tief in sich trägt und mitnimmt. Auch muss man seine Beziehung zu einer jeglichen Stadt jeden Tag neu erfinden, sonst wird man abgestossen, weil man nicht gebraucht wird. Deshalb geht es für mich in diesem Film vordergründig auch um Menschen, die nicht so akzeptiert werden, wie sie sind: Ali wie auch seine Freunde, seine Familie und die Ausweislosen."

Diese eher erdrückende Thematik geht symbiotisch mit einer wunderbar sensiblen Darstellung von Körperlichkeit, Geschlecht und zwischenmenschlichen Beziehungen einher. Parallel zur Odyssee des Protagonisten wird etwa dokumentiert, wie Alis Mutter aus der patriarchalen Gesellschaftsstruktur auszubrechen versucht und subtil kommt zum Ausdruck, dass sein Freund Oussama (Amr Saad) eigentlich mehr als nur eine Freundschaft möchte. "Ägypten ist eigentlich sehr modern in seinen sozialen Beziehungen und jeder kann so leben wie er will. Der Haken ist jedoch, dass man nicht darüber reden darf", kritisiert Nasrallah. Funktioniert der Film also gerade deshalb, weil Erotik, Virilität, Geschlecht und Sensualität nicht zum alleinigen Thema gemacht wurden? "Sicherlich", pflichtet Nasrallah bei. "So ergibt sich eine Spannung, die nie aufgelöst wird. Ich kann und will meine Figuren nicht als geschlechtslos behandeln und so ist die physische Anziehung immer da - nicht nur zwischen Ali und Oussama. Der Zuschauer soll das Geschlecht, den Körper, die Gefühle ruhig spüren. Und auch, dass diese Gefühle schön sind, den Personen im Film Schönheit verleihen und sie erotisieren. Wenn das funktioniert, ist es eine Art Magie: Man kann Körper sehen, obwohl keine Körper entblösst sind."

15.12.2020

4

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