Artikel17. Oktober 2023

Filmwissen: Das Kino von Martin Scorsese: Film als Lebenselixier

Filmwissen: Das Kino von Martin Scorsese: Film als Lebenselixier
© 20th Century Fox Switzerland / Warner Brothers Switzerland

Am 17. November 2023 wird Martin Scorsese 81 Jahre alt – und hat beruflich noch lange nicht genug. Mit «Killers of the Flower Moon» startet in den Kinos rund einen Monat vorher sein neuer Film. Das True-Crime-Westerndrama um eine Mordserie an Ureinwohnern in Osage County eignet sich perfekt, um einen Blick auf die Karriere, den Stil und die Interessen eines der wichtigsten lebenden US-Filmemacher zu werfen.

von Christopher Diekhaus

Vom Priesterseminar zum Filmemacher

Willem Dafoe in «Die letzte Versuchung Christi» © IMDb

Glaube und Gewalt – zwischen diesen Polen wächst der 1942 geborene Martin Scorsese in Little Italy, dem New Yorker Viertel der italienischen Einwanderer, auf. Grosse Bedeutung in seinem frühen Leben hat der sizilianische Katholizismus. Spürbar ist für ihn aber auch der Einfluss der Mafia, die neben der Kirche als zweite ordnende Kraft des Bezirks fungiert. Da er aufgrund einer Asthmaerkrankung als Kind nur bedingt in den rauen Alltag der Strasse eintauchen kann, wird das Kino zu einem Fenster zur Welt. Bereits in jungen Jahren zieht es Scorsese voller Begeisterung vor die Leinwand. Und schnell ist er dabei, das Gesehene nachzuzeichnen und sich eigene Geschichten auszudenken.

Eine Filmlaufbahn schlägt er später erst nach einer abgebrochenen Priesterausbildung ein. Der katholischen Kirche steht Scorsese seit den späten 1960er-Jahren kritisch gegenüber. Glaube hat für ihn allerdings weiterhin eine enorme Bedeutung, wie seine Regiekarriere beweist. 1988 etwa erscheint mit «Die letzte Versuchung Christi» ein kontrovers diskutiertes Drama, das Jesus als zweifelnden, unsicheren, von körperlichem Begehren keineswegs unbeeindruckten Menschen zeigt. 2016 wiederum legt Scorsese mit «Silence» eine nachdenklich stimmende Meditation über religiöse Anschauungen und religiöse Verfolgung vor.

Zu einer markanten Stimme entwickelt sich Scorsese nach seinem Filmstudium und ersten Gehversuchen unter Exploitation-Legende Roger Corman in der Bewegung des sogenannten New Hollywood – einer kurzen, ungewöhnlich kreativen, klassische Erzählkonventionen und Sehgewohnheiten aufbrechenden Phase der amerikanischen Filmindustrie. Handwerklich gut ausgebildet und stark beeinflusst vom europäischen Autorenkino, vor allem von der französischen Nouvelle Vague, drehten Regisseure wie Scorsese, Francis Ford Coppola, Robert Altman, William Friedkin und Michael Cimino ab Anfang der 1970er Jahre zum Teil radikal persönliche Werke.

Gangster, immer wieder Gangster

Mit «Hexenkessel» (1973) taucht Martin Scorsese in den Überlebenskampf in Little Italy ein, beleuchtet die Figur des Gangsters und nimmt die Rituale im kriminellen Milieu genauer in den Blick. Spannend dabei: Einerseits zeigt der Film immer wieder authentische Details. Andererseits wird der raue Realismus aber auch durch Rückgriffe auf die Mythen des amerikanischen Gangsterkinos und auf expressionistische Elemente gebrochen – etwa in der fast schon ikonischen Szene, wenn Robert de Niro zum Rolling Stones Song «Jumpin' Jack Flash» seine Stamm-Bar betritt.

Scorseses Faible für diejenigen, die auf der falschen Seite des Gesetzes stehen, wird zu einer Konstanten in seinem Schaffen. «Good Fellas – Drei Jahrzehnte in der Mafia» (1990), «Casino» (1995), «The Departed – Unter Feinden» (2006), «The Irishman» (2019) – in all diesen Filmen geht es um das organisierte Verbrechen, Aufstieg und Fall krimineller Akteure. «Killers of the Flower Moon» fügt sich da bestens ein, gibt es hier mit dem von Robert De Niro gespielten Rinderbaron William Hale doch einen perfiden Strippenzieher, der sich vordergründig als Freund und Unterstützer der Osage-Indigenen ausgibt, in Wahrheit aber nur auf ihr ölreiches Land scharf ist.

Eng verbunden mit dem Gangsterthema ist im Kino Scorseses das Phänomen der Gewalt. Immer wieder kommt es in seinen Filmen zu grausamen Ausbrüchen, explodieren Wut, Hass, Neid und fatale Resignation. Im urbanen Albtraum «Taxi Driver» (1976), einer furiosen Charakterstudie über einen psychisch labilen Vietnamkriegsheimkehrer, kommt es zum Beispiel zu einem ins Surreale übergehenden Amoklauf des Protagonisten. Nicht selten setzt der Regisseur die Gewalt auch unmissverständlich in Bezug zur blutigen US-Geschichte. «Gangs of New York» (2002) schildert den brutalen Machtkampf Mitte des 19. Jahrhunderts im New Yorker Elendsviertel Five Points. Und «Killers of the Flower Moon», der eine durch Habgier motivierte Mordserie rekonstruiert, klagt vehement die Ausbeutung und die brutale Behandlung der amerikanischen Ureinwohner an – eine Sünde, die im klassischen Western zumeist unter den Teppich gekehrt wird.

Männer ohne Halt

Robert de Niro in «The King of Comedy» © IMDb

Typisch ist das neue Epos auch, weil es Frauen eher an den Rand drängt. Sie sind deutlich weniger ausgearbeitet, wenn auch für den Plot und dessen Wendungen nicht unwichtig. Scorseses Kino ist ein Kino der Männer – besonders der instabilen Männer, deren Identität brüchig geworden ist, die Halt und Orientierung suchen, geradezu verzweifelt um ihren Aufstieg kämpfen. Veteran Travis Bickle aus «Taxi Driver» findet keinen Anschluss an die Gesellschaft, keine Rolle, in die er hineinpasst, und flüchtet sich in verquere Heldenbilder. «The King of Comedy» (1977) erzählt von einem Möchtegernkomiker, der sich masslos überschätzt und schliesslich sein Idol entführt, um den grossen Durchbruch zu schaffen. In «Killers of the Flower Moon» gibt Leonardo DiCaprio den jungen Ernest Burkhart, der aus dem Ersten Weltkrieg zurückkehrt und nicht recht weiss, wie er Fuss fassen soll. Gelegen kommt ihm daher das Angebot seines Onkels William Hale, der ihn unter seine Fittiche nimmt und seine Unsicherheit, seine Naivität schamlos ausnutzt.

Von Scorseses angeknacksten Männerfiguren ist der Weg nicht weit zu deren Darstellern. Schon früh in seiner Laufbahn etabliert sich der Italoamerikaner als Schauspielerregisseur. Als Filmemacher, der seinen Mimen Raum zur Improvisation gibt, sie zu Höchstleistungen anspornt und mit einigen von ihnen regelrecht symbiotische Beziehungen eingeht. Robert De Niro wird in den 1970er-Jahren zum Dauergast in Scorseses Arbeiten und liefert mehrere eindringliche Charakterporträts ab – nicht zuletzt als Boxweltmeister Jake LaMotta in «Wie ein wilder Stier» (1980). In jüngerer Vergangenheit vertraut die Regielegende besonders Leonardo DiCaprio, der inzwischen zum sechsten Mal in einem Scorsese-Spielfilm der Dreh- und Angelpunkt ist.

Leonardo Di Caprio in «The Wolf of Wall Street»©

Schaut man sich die Bilder von «Killers of the Flower Moon» an, drängt sich eine weitere Vorliebe des Machers auf. Im Werk Scorseses bekommen wir es oft mit einer sehr agilen Kamera zu tun: einer Kamera, die schwenkt, fährt, sich dreht, durch Menschenmassen gleitet. «The Wolf of Wall Street» (2013), eine Börsensatire über den Betrüger Jordan Belfort, kommt fast nie zur Ruhe und entpuppt sich als hemmungslose Dauersause. Strenge, statische Einstellungen sind für diesen Regisseur nicht gerade typisch. Er braucht Bewegung und erzeugt dadurch enorme Energie.

Kämpfer für die Filmkunst

Ben Kingsley und Asa Butterfield in «Hugo» © Elite Film

Dass Scorsese das Kino und seine Ausdrucksmittel liebt, demonstriert er ganz offen. Die Romanadaption «Shutter Island» (2010) arbeitet sich eifrig durch das Repertoire klassischer Spannungs- und Horroreffekte. Das visuelle Feuerwerk «Hugo» (2011) verneigt sich vor der Magie des Mediums und der Leistung von Leinwandpionier Georges Méliès. Zufall ist es ebenso wenig, dass in «Killers of the Flower Moon» einige Szenen in einem Kino spielen. Mit Dokumentarwerken wie «My Voyage to Italy» (1999) ergründet Scorsese unterhaltsam-informativ die Filmgeschichte. Und nicht von ungefähr engagiert er sich regelmässig für die Entdeckung verkannter Produktionen oder die Wiederentdeckung vergessener Schätze.

Als Kämpfer für die Leinwandkunst ist er sich übrigens nicht zu schade, mit seiner Meinung anzuecken. Marvel-Filme seien eigentlich kein Kino, sondern Themenparks – diese Interviewaussagen (Empire) rufen 2019 viele Gegenstimmen auf den Plan. Nicht zu Unrecht, weil Scorsese in seiner Argumentation verkennt, dass sein geliebtes Medium Ende des 19. Jahrhunderts als Jahrmarktsattraktion, als Spektakel für die neugierige Masse entsteht. Allerdings: Wie trist wäre eine Welt, in der es nur noch Superheldenstreifen gäbe und keine episch breiten, inszenatorisch virtuosen und thematisch komplexen Filme im Stil von «Killers of the Flower Moon». Möge Martin Scorsese noch viele Jahre weiterdrehen!

«Killers of the Flower Moon» ist ab dem 19. Oktober im Kino zu sehen.

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