Les Filles d’Olfa Frankreich, Deutschland, Saudi-Arabien, Tunesien 2023 – 107min.

Filmkritik

Kino, das die Erinnerungen wachruft

Filmkritik: Damien Brodard

Der neue Film der tunesischen Regisseurin Kaouther Ben Hania wurde bei den letzten Filmfestspielen in Cannes mit mehreren Preisen ausgezeichnet, unter anderem als bester Dokumentarfilm. Er erschüttert mit seiner untypischen Versuchsanordnung.

Olfa Hamrouni, eine tunesische Mutter von vier Töchtern, lebt nur noch mit ihren beiden jüngsten Töchtern, Eya und Tayssir, zusammen. Die älteren Mädchen, Ghofrane und Rahma, flohen 2015 aus dem Elternhaus, um sich in Libyen ansässigen Sympathisanten des Islamischen Staates anzuschließen. Die Regisseurin Kaouther Ben Hania bringt diese tragische Geschichte durch Interviews mit den Frauen auf die Leinwand. Zudem stellt sie die traurige Vergangenheit mit Hilfe der Schauspielerinnen Ichraq Matar und Nour Karoui als die beiden verschwundenen Schwestern in kurzen Rollenspielen nach. Wenn die Erinnerung zu schwer wird, überlässt Olfa ihren Part dem tunesischen Star Hend Sabri.

Kaouther Ben Hania beschreibt ihre Rolle in ihrem neuesten Film als «documenteuse», da sie bislang eher im Bereich der Fiktion zu Hause war. Die tunesische Regisseurin erzählt mutig eine ergreifende Geschichte, in der sich der Dokumentarfilm, der von verschiedenen Zeugenaussagen getragen wird, und die Fiktion, die durch die Rekonstruktion bestimmter Ereignisse herbeigeführt wird, ständig miteinander vermischen. Die Grenzen verschwimmen und schaffen so ein beunruhigendes Werk, bei dem Erinnerungen vor unseren Augen wieder lebendig werden, getragen von grossartigen Schauspielerinnen, aber vor allem von den Frauen, die ihre echten Erfahrungen erzählen. Ben Hania verzichtet dabei nie darauf, Regie zu führen oder komplexe Bildkompositionen vorzuschlagen, die auf bewundernswerte Weise die Erzählungen zu unterstützen. Dabei macht sie immer wieder die Dualitäten bewusst – Abwesenheit und Anwesenheit, die Frau und die Schauspielerin.

Es handelt sich um einen reflektierten Film, der nie versucht, seine Natur zu verbergen – bis hin zu den Proben oder Debatten über die schauspielerische Ausführung. Neben der herzzerreissenden Geschichte liefert der Film so spannende Überlegung zur Rolle der Schauspielerinnen im filmischen Gesamtkunstwerk.

Es gehört viel Mut dazu, seine Erfahrungen, Schuldgefühle und Hoffnungen in einem solchen Film so offen zu zeigen. Olfa Hamrouni und ihre beiden Töchter Eya Chikhaoui und Tayssir Chikhaoui, die keine Schauspielerinnen sind, schildern ihr Leben als Frauen in der tunesischen Gesellschaft und die schmerzhafte Erinnerung an ihre indoktrinierten Angehörigen mit erschütternder Offenheit und Schonungslosigkeit. Sie prangern damit den Terror an, den religiöser Radikalismus auslösen kann.

Obwohl der Film wie ein Schlag in die Magengrube wirkt, ist er dennoch bemerkenswert menschlich und warmherzig. Das liegt nicht nur an der berührenden Beziehungen der Frauen, sondern auch an der wunderschönen Fotografie, die sich von den eher trüben und naturalistischen Tönen, die man normalerweise von einem Dokumentarfilm erwarten würde, entfernt. Obwohl der Einsatz der Musik manchmal vielleicht etwas übertrieben ist oder der Einblick in die familiäre Intimität eine Spur zu Aufdringlich sein kann, bleibt der Film immer respektvoll gegenüber seinen Protagonistinnen. Sein Konzept erweist sich dabei immer wieder als äusserst effektiv. «Les Filles d’Olfa» ist eine filmische Grosstat, ein erschütterndes und aussergewöhnliches Werk, für das sich auch die Goldene Palme nicht hätte schämen müssen!

09.12.2023

4.5

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