À plein temps Frankreich 2021 – 85min.

Filmkritik

Atemlos

Filmkritik: Eleo Billet

Für seinen zweiten Spielfilm wurde Éric Gravel bei den Filmfestspielen von Venedig 2021 mit dem Preis für die beste Regie ausgezeichnet. Laure Calamy spielt darin eine Frau im Sturm, Spiegel eines zerklüfteten Frankreichs, eine Rolle, für die sie mit dem Preis für die beste Schauspielerin ausgezeichnet wurde.

Julie (Laure Calamy) jongliert zwischen ihrem verhassten Job als Zimmermädchen, endlosen Fahrten vom Land in die Hauptstadt und der Betreuung ihrer beiden Kinder. Als sie in einen einwöchigen Streik gerät, gerät ihr ohnehin schon zerbrechlicher Alltag ins Wanken und sie gerät in eine Krise. Welche Opfer wird sie bringen, um zu überleben?

Arbeiterin, Arbeitssuchende, getrennt lebende Frau, Freundin, Kollegin, Mutter: Im Laufe der Jahre haben sich Julies Verpflichtungen zu einem Reigen von höllischer Monotonie verwoben. Doch die Heldin ist nicht von Apathie geprägt, sondern von ständigem Stress, vom Einkaufen, um in den Zug zu kommen, bis zum minutiösen Zeitplan für die Reinigung der Zimmer in einem Palast. Die seltenen Momente der Ruhe, die von Laure Calamys Atem erzählt werden, werden kürzer und unruhiger, je mehr die Tage vergehen. Das Augenlid, das seit Blade Runner selten eine so grosse Bedeutung hatte, zittert und hat Mühe, mit dem Rhythmus Schritt zu halten. Manchmal möchte es sich am liebsten für immer schliessen, wie die fantasievollsten Szenen des Werks zeigen, die zwischen chimärischem Ertrinken und Selbstmord bei einem vorbeifahrenden Zug liegen.

Julie kann zwar nicht am Streik teilnehmen, aber der Streik umschliesst und behindert sie durch seine Allgegenwart in den Medien, in den Köpfen und in der Stadt wie ein ständiges Hindernis, das ihr ohnehin schon anstrengendes Hin- und Herreisen zu einer Reise macht. Zwar drängt sie zur Solidarität, aber dieser soziale und kollektive Bruch spielt vor allem die Rolle eines Auslösers für den intimen Bruch der Protagonistin. Die Erzählung, die sich auf eine einzige Woche beschränkt, wird von einer Kamera begleitet, die aus der Nähe des Geschehens auf die Menschenmenge mit ihren gespannten Gesichtern gerichtet ist. Die Spannung wird durch einen elektronischen Soundtrack verstärkt und steigt bis zur Implosion, um sowohl die Schauspielerin als auch die Figur an ihre Grenzen zu bringen.

Julie gibt ihre letzten Euros für Kostüme, Trampolinspringen und Freizeitaktivitäten aus, um den Schein zu wahren - für ihre Kinder, ihren Arbeitgeber, sich selbst. Für sie wäre es sogar eine Erniedrigung, in ihrem Dorf als Kassiererin zu arbeiten oder in einem Pariser Vorort zu wohnen. Um ihre Ziele zu erreichen und mit ihrer ganz persönlichen Moral zögert sie nicht, andere Frauen, die sich in einer ebenso prekären Lage wie sie selbst befinden, zu erpressen, zu belügen und zu betrügen, wobei sie so sehr in ihrem Unglück versunken ist, dass sie das Leid ihrer Umgebung vergisst. Die tragische Ironie ist jedoch nie weit entfernt, und nur das Ende, das zu sehr auf Hoffnung setzt, obwohl nichts auf einen glücklichen Ausgang hindeutet, schwächt die Kraft dieses brutal schönen Uppercuts etwas ab.

Übersetzung aus dem Französischen von Eleo Billet durch Zoë Bayer.

17.10.2022

4

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Kommentare

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thomasmarkus

vor einem Jahr

Der Soundtrack stimmt ein ins Atemlose; man fiebert mit - im Saal gar laut und störend, so wenig hielten es paar ältere Damen nicht aus...


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