Tarde para morir joven Argentinien, Brasilien, Chile, Niederlande, Katar 2018 – 110min.

Filmkritik

Erwachsensein ist Schall und Rauch

Locarno Film Festival
Filmkritik: Locarno Film Festival

«Nur äusserlich klein», so bezeichnen sich die jungen Protagonisten in Dominga Sotomayors eindrücklichem Langspielfilm Tarde para morir joven gleich selbst. Das Coming-of-Age-Drama über Jugendliche und Kinder in einer chilenischen Kommune feierte Premiere im Internationalen Wettbewerb des Filmfestival Locarno.

Filmkritik von Katja Zellweger

Sie kann Auto fahren und rauchen wie die Grossen. Aber so selbstbestimmt wie sie sich gibt, so hilflos ist sie damit. Man meint, Sofia versuche es, sich im Rauch ihrer Zigaretten oder im Wasser aufzulösen wie eine Tablette, die so ihre Bitterkeit verliert. Die 16-Jährige lebt in einer kommunenartigen Siedlung in Chiles bergigem Hinterland mit ihrem Vater, dem sie, wenn auch subtil, den Tarif durchgibt: «Papa ich rauche jetzt. Und damit Ende der Diskussion.» Vorbild und grosse Abwesende ist dabei die Mutter, die in der Stadt lebt. Sofia leidet ganz offensichtlich unter der Trennung von ihr und dem Fakt, dass sie sich die Welt nicht einfach zurechtbiegen kann, wie sie es gerne hätte. Darum projiziert sie alle Zuneigung auf den älteren, sporadisch auftauchenden Ignacio in der Jeansjacke. Dieser kann gleichermassen mit Motorrad-Verletzungen auftrumpfen wie mit Unverbindlichkeit. Im Gegensatz dazu scheint ihr treuer Freund Lucas mit dem lockigen Irokesenwuschel unspannend. Was er bieten kann, ist seine jugendliche, unhinterfragte Liebe und ein Leben in der Robinsonhütte auf dem Baum. Von diesem Symbol des ersten jugendlichen Eigenheims bleibt am Ende des Films nur ein vom Feuer verkohltes Skelett übrig.

Der Film Tarde para morir joven der chilenischen Regisseurin Dominga Sotomayor, der am Filmfestival Locarno im Internationalen Wettbewerb Premiere feierte, ist geprägt von starken Bildern, die an verbleichte Familienfotos erinnern. Der Retro-Farbton des Films, die alten Autos sowie der antiautoritäre Erziehungsstil der kettenrauchenden Erwachsenen transportieren uns in die Neunzigerjahre Chiles, wo sich die Handlung während einer Silvesterparty zuspitzt und sich am Ende alles im Rauch auflöst. Das Haus der zweiten weiblichen Protagonistin, der zehnjährigen Clara, ist ein weiteres Beispiel der starken Bildwelt, die Sotomayor ständig kreiert: einzig das Glasfenster ist befestigt, lediglich ein paar Holzverstrebungen zeugen von der Intention, einmal ein Mauerwerk rund ums Fenster zu machen. Doch Privatsphäre hat in dieser Gemeinschaft wenig Gewicht.

Das Leben im Glashaus ist bewusst gewählt. Einzig wenn das Wasser wieder auszugehen droht, erlaubt sich auch mal jemand, die Wasserleitung des Nachbarn heimlich anzuzapfen. Doch die Installation einer Stromleitung wird vom Plenum abgelehnt, was die Jugendlichen mit einem zynischen Schulterzucken kommentieren. Sowieso sind diese jungen Protagonisten, in deren Augen und Ohren sich die Welt der unperfekten Grossen spiegelt, wie es die zehnjährige Clara sagt, «nur äusserlich klein». Sie beschäftigen die Fluchtversuche ihres Hundes Frida, der den Film zu Ende bringt, indem er ungehalten in eine in Rauch gehüllte Zukunft davonrennt. Ansonsten geht sie mit ihrer Kinderbande dem Gerücht um verseuchtes Wasser in der Siedlung nach und erzeugt Strom mit einer Autobatterie.

Sotomayor hat mit Tarde para morir joven einen grossen Coming-of-Age-Film mit herausragenden jungen Schauspielern geschaffen. Die Filmemacherin präsentiert einen Film, der es sowohl inhaltlich als auch ästhetisch aufnehmen kann mit der diesjährigen spanischen Oscar-Eingabe Summer 1993 sowie dem argentinischen Film XXY von 2007 über die intersexuelle Jugendliche Alex. Sotomayors Mittel werden zu ihrem unaufgeregten Stil, den man schon aus ihrem Roadmovie De Jueves a Domingo (2012) kennt: sie gibt dem Kleinen und Subtilen Raum. Den Fokus legt sie, die das Drehbuch schrieb, Regie führte und den Film mitproduzierte, konsequent auf die Jugendlichen und Kinder. Die Protagonisten zeigt sie in kurzen, nah gefilmten Szenen, flüchtigen und zugleich gewichtigen Blickwechseln in der kleinen Gemeinschaft ausserhalb der grossen Zivilisation. Der politisch-gesellschaftliche Zustand des Landes bleibt ein Hintergrundsrauschen in der Welt der nicht Erwachsenen.

Der vorliegende Artikel entstand im Kontext der Locarno Critics Academy.

06.08.2018

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