Zwölf Stühle Deutschland 2004 – 198min.

Filmkritik

Schatzsuche im Wilden Osten

Filmkritik: Irene Genhart

Ulrike Ottingers "Zwölf Stühle", die Verfilmung eines 1927 spielenden Romans von Ilja Ilf und Jewgeni Petrow, ist ein bilderstarkes, dreieinhalbstündiges Roadmovie, das en passant einiges über die heutigen Zustände in den ehemaligen GUS-Staaten berichtet.

Theatralische Spielfilme wie "Johanna d'Arc of Mongolia", "Madame X" und "Freak Orlando" hat Ulrike Ottinger bisher gedreht, sowie feinfühlige ethnographische Dokumentarfilme wie "Taiga", "China. Die Künste. Der Alltag" und "Exil Shanghai". Gemeinsam ist ihren Filmen das Moment des Unterwegs-Seins: Geographisch bewegt sich Ottinger von Berlin aus gegen Osten. Seit der Eiserne Vorhang fiel, meint sie heute, sei der Osten noch viel spannender geworden.

Ergo begab sie sich 2001 "auf die Suche nach jenen blinden Flecken Europas, die heute dem medialen Vergessen preisgegeben sind" und reiste von Berlin via Polen, Tschechien, die Slowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien nach Odessa. "Südostpassage" heisst der 8-stündige Dokfilm, der dabei entstand. Doch Ottinger hat reisend nicht nur Land und Leute, sondern auch die Literatur des Ostens entdeckt. So etwa Ilja Ilfs und Jewgeni Petrows Roman "Zwölf Stühle".

"Zwölf Stühle" titelt nun auch ihr neuster Film, ihre erste Literaturverfilmung, in der kongenial zusammen kommt , was Ottingers Schaffen kennzeichnet: Das Unterwegssein, das Theatralische, der ethnographische Blick. Angelegt ist der Film als Roadmovie: Nachdem der ehemalige Adelsmarshall Ippolit Matwejewitsch Worobjaninow von seiner sterbenden Schwiegermutter erfahren hat, dass sie zu Beginn der Revolution in einem seiner Salonstühle Juwelen versteckte, begibt er sich in der noch jungen UdSSR der Zwanzigerjahre auf Schatzsuche. Die besagten Stühle nämlich wurden konfisziert und sind inzwischen übers ganze Land verteilt.

Vom verschlafenen Dorf Wilkowa nach Odessa und von da quer durch die GUS-Staaten führt die Reise, begleitet wird Ippolit schon bald vom Geschäfte riechenden Kleinganoven Ostap Bender. Doch die in Gier gründende und reichlich theatralisch gestaltete Story von der Suche nach den Stühlen, deren Polster - es lebe die Moral! - alle leer sind, funktioniert vor allem als Aufhänger. Spannender ist, was es in "Zwölf Stühle" zusätzlich noch zu entdecken gibt - wenn man sich auf Ottingers bedächtige Erzählweise einlässt. Zum Beispiel die für den Film kaum veränderten Drehorte: Halb zerfallene Häuser, verstellte Hinterhöfe, das kanalreiche Dorf Wilkowo, der an der Gabelung zweier Dnjepr-Zuströme gelegene, heruntergekommene ehemalige Handelsknotenpunkt Nikolajew, die seit Sergej Eisensteins "Panzerkreuzer Potemkin" legendäre Treppe von Odessa: Alles Orte, aus denen, wie Ottinger es formuliert, "die Schichten der Geschichte" sprechen. Und last but not least die aus Odessa stammenden Hauptdarsteller Georgi Delijew und Genadi Skarga, die in der Rolle von Ippolit und Ostap ein wundersam charismatisches Gauklerpaar abgeben. Fazit: Ein Film, der viel Sitzleder fordert und seinen Reichtum nur indirekt preisgibt. Aber wer sich für das heutige Osteuropa interessiert, darf "Zwölf Stühle" nicht auslassen.

24.02.2021

4

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Kommentare

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booper

vor 19 Jahren

Ja, Sitzleder braucht der Film. Dies wäre allerdings nicht so schlimm, wenn er auch wirklich gut wäre. Aber hier wurde zu meinem Missfallen ein hervorragendes Buch zur Unkenntlichkeit entstellt.
An die Theatralik könnte ich mich noch gewöhnen. Mehr Mühe habe ich mit der Vermischung von zwei Zeitepochen. Und dann wird z. B. Ostap Bender quasi als "Clown" dargestellt, was so überhaupt nicht mit der Buchvorlage übereinstimmt. Alles in allem fand ich den Film eine Absolut misslungene Parodie auf ein wunderbares Buch. Leider!Mehr anzeigen


sabinchen

vor 19 Jahren

5 sterne


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