Interview16. Januar 2024

Zar Amir Ebrahimi: «Filmschaffende im Iran wollen keine Gefangenen der Zensur sein»

Zar Amir Ebrahimi: «Filmschaffende im Iran wollen keine Gefangenen der Zensur sein»
© 2024 Outside the Box

Die iranische Schauspielerin Zar Amir Ebrahimi ist nicht nur eine konstante Grösse im Kino, sondern auch sehr gefragt. Zuletzt war sie in «Shayda» zu sehen, der am 11. Januar in den Schweizer Kino gestartet ist. In der Romandie startet mit ihr diese Woche «Mon pire ennemi». Wir trafen sie vergangenes Jahr bei der Berlinale und anschliessend beim Filmfestival von Locarno zum Interview.

Interview und Text von Marine Guillain, übersetzt aus dem Französischen

«Mon pire ennemi» ist ein ungewöhnlicher Film, eine schockierende und verstörende Erfahrung, die mit den Grenzen zwischen Dokumentation und Fiktion spielt. Um die Methoden der iranischen Behörden anzuprangern, schlüpfte der Filmemacher Mehran Tamadon in die Rolle eines Gefangenen und bat Personen aus seinem Umfeld, darunter die Schauspielerin Zar Amir Ebrahimi, ihn einem Verhör zu unterziehen, wie es ein Beamter der Islamischen Republik durchführen könnte.

«Ich habe im Iran mehrere Monate voller Verhöre erlebt und die Idee war, dass ich mich davon inspirieren lassen sollte», erklärte uns Zar Amir Ebrahimi im Februar auf der Berlinale, als wir noch völlig benommen waren von dem Film, den wir gerade erst gesehen hatten. Die Schauspielerin, die in ihrer Heimat eine TV-Grösse ist, musste 2008 fliehen, kurz bevor sie zu einem zehnjährigen Verbot jeglicher künstlerischer Tätigkeit und 90 Peitschenhieben verurteilt wurde. Dies geschah nach der mutwilligen Verbreitung eines intimen Videos von ihr im Internet. Seitdem lebt die Schauspielerin in Frankreich.

Zar Amir Ebrahimi bei der Vorstellung von «Mon pire ennemi» bei der Berlinale im Februar 2023 © Berlinale 2023

«Einige Tage vor den Dreharbeiten fragte ich mich, warum ich überhaupt zugesagt hatte», fährt die Iranerin fort. «Sich in den Kopf des Henkers zu versetzen, ist eine gewalttätige und bizarre Erfahrung, die mich noch heute mit 1000 unbeantworteten Fragen zurücklässt. Das meiste wurde in dem Moment improvisiert. Ich stellte Mehran Tamadon Fragen, versuchte ihn zu verunsichern, zu schockieren... Nach einer Weile wurden alle Mitglieder des Filmteams zu meinen Mitarbeitern, man versuchte, ihn zu zerstören, ihn zu brechen. Ich habe ihn die ganze Nacht nackt in einem winzigen Badezimmer eingesperrt, in dem es superkalt war. Ich konnte nicht schlafen, aber ich musste es durchziehen. Nach den Dreharbeiten brauchte ich etwas Abstand. Ich war wütend auf Mehran, weil er mir das angetan hatte, und hatte keine Lust mehr, mit ihm zu sprechen. Zwei Jahre später hat sich das geändert, allerdings kann ich den Film nicht sehen, ich hasse ihn und das ganze Setup. Ich habe eine Hassliebe zu diesem Film!»

Preise in Cannes und Drohungen

Zar Amir Ebrahimi hat seit ihrer Auszeichnung als beste Schauspielerin bei den Filmfestspielen von Cannes 2022 eine steile Karriere hingelegt. In dem Thriller «Holy Spider» von Ali Abbasi spielt sie eine Journalistin, die gegen religiöse Unterdrückung und Sexismus kämpft: «Ich habe viel positives Feedback zu diesem Film bekommen, ich glaube, die Leute sind froh, dass Menschen Filme machen, die nahe an der Realität sind. Sie sind Spiegel der Gesellschaft, und selbst wenn sie unangenehm sind, muss man darüber reden, sonst kann man die Probleme nie lösen.»

Die Schauspielerin sagt, dass sie nicht damit gerechnet habe, dass sie bei der Veröffentlichung des Films so viele Drohungen erhalten würde: «Wir wussten, dass es der Regierung nicht gefallen würde, aber die Leute sind durchgedreht! Es gibt Leute aus dem Team, die nicht in den Iran zurückkehren konnten, der Regisseur zum Beispiel lebt jetzt in Berlin... Es hat viel Mut erfordert, diesen Film zu machen, es war ein echtes Risiko.» Und über das iranische Kino im Allgemeinen: «Im Iran kannst du nichts kritisieren, nichts ist jemals ehrlich, es gibt immer einen Fake-Anteil in unserem Kino, weil es von einer Diktatur kontrolliert wird. Vor allem, wenn es um die Geschichte der Frauen geht! Manchmal drückt man sich durch Poesie aus. Die Filmschaffenden und Schauspieler im Iran versuchen immer mehr, mit der internationalen Gemeinschaft in Verbindung zu treten, sie wollen keine Gefangenen der Zensur sein»

Zar Amir Ebrahimi in «Shayda» unter der Regie von Noora Niasari © Filmcoopi Zürich AG

Als Jurymitglied beim letztjährigen Filmfestival in Locarno stellte Zar Amir Ebrahimi ausserdem «Shayda» vor, eine kraftvolle Geschichte über eine junge iranische Mutter und ihre sechsjährige Tochter, die auf der Flucht vor einem gewalttätigen Ehemann in einem Frauenhaus in Australien Zuflucht finden. Der Film wurde von Cate Blanchett produziert und von Noora Niasari inszeniert, die in Wirklichkeit die Geschichte ihrer eigenen Mutter und ihrem Leben mit ihr erzählt. Zar erinnert sich: «Sobald ich ihr Drehbuch gelesen hatte, fühlte ich mich wie Shayda. Ich bin keine Mutter und es war eine echte Herausforderung, diese Rolle zu spielen, weil ich nicht wusste, woran ich mich festhalten sollte. Gleichzeitig hatte ich das Gefühl, dass sie eine Frau ist, die wir kennen, dass wir alle ein bisschen von ihr in uns haben. Ich habe so sehr an ihr gehangen und so viel in sie investiert, dass ich Shayda heute vermisse». Für die Schauspielerin war es eine belastende Erfahrung, vor Noora Niasari und ihrer Mutter, die am Set dabei war, zu spielen, was alles andere als einfach war. Sie berichtet, dass sie jeden Tag geweint und während der Dreharbeiten vier Kilo abgenommen hat.

«Diese Gewalt gegen Frauen betrifft nicht nur iranische Frauen, es gibt sie überall», stellt sie fest. «Es gibt Feminizide in Frankreich, Italien, den USA ... Für mich war es am interessantesten, dieses Trauma zu zeigen und darüber nachzudenken, wie man sich davon erholen kann ... Ich habe mich von meinen Erfahrungen inspirieren lassen, von meinen Begegnungen mit anderen Frauen und von der ganzen Gewalt, die ich um mich herum gesehen habe, im Iran und anderswo.» «Shayda» läuft seit dem 11. Januar 2024 in den Kinos der Deutschschweiz.

Judo, Literatur und ... der Iran

Ein weiterer neuer Film ist «Tatami», die erste iranisch-israelische Koproduktion unter der Regie von Guy Nattiv und Zar Amir Ebrahimi. Der Film handelt von einer iranischen Judoka, die sich weigert, sich ihrer Regierung zu beugen. Diese befiehlt ihr, das Turnier abzubrechen, indem sie eine Verletzung vortäuscht, um nicht gegen eine Israelin antreten zu müssen. Dieser politische Thriller hatte seine Weltpremiere im September bei den Filmfestspielen in Venedig.

Die Schauspielerin wird auch in «Reading Lolita in Tehran» zu sehen sein, zusammen mit ihrer ebenfalls im Exil lebenden Freundin Golshifteh Farahani. Letztere spielt eine Professorin, die unter dem Druck der iranischen Behörden von der Universität Teheran zurücktreten musste und nun heimlich Studentinnen in ihrem Haus versammelt, um literarische Werke zu entdecken. «Es handelt sich um die Adaption eines Bestsellers», erklärt Zar Amir Ebrahimi. «Die Mädchen fangen an, Lolita zu lesen, und gleichzeitig erzählen sie aus ihrem Leben. Ich spiele eine Studentin, es ist eine kleine Rolle, aber es ist toll, dass ich mit Golshifteh drehen konnte, und ich hoffe, wir finden noch mehr gemeinsame Projekte!»

Durch ihre Filme und ihr Engagement, mit dem sie die Stellung der Frau in der iranischen Gesellschaft zu verbessern sucht, wurde Zar als eine von 100 Persönlichkeiten in die renommierte Liste «BBC 100 Women 2022» aufgenommen, die inspirierende Frauen aus der ganzen Welt ehrt. Derzeit arbeitet sie an ihrem ersten Spielfilm «Honor of Persia», der von ihrem letzten Jahr im Iran inspiriert sein wird: «Ich habe jahrelang daran gearbeitet. Die Geschichte muss persönlich und authentisch bleiben, aber auch universell sein und viele Menschen berühren können.»

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