News16. August 2021

Locarno 2021: Ein überraschender Actionfilm gewinnt.

Locarno 2021: Ein überraschender Actionfilm gewinnt.
© DCM Film

Die indonesische Sozialstudie mit ausgiebigen Prügeleien «Seperti Dendam, Rindu Harus Dibayar Tuntas» gewinnt den Hauptpreis des 74. Filmfestivals von Locarno.

Filmkritiken von Walter Rohrbach

Seperti Dendam, Rindu Harus Dibayar Tuntas

Der aussergewöhnliche Filmtitel kann folgendermassen auf Deutsch übersetzt werden: «Die Rache ist mein, alle anderen zahlen bar». Und tatsächlich handelt die Sozialstudie vom indonesischen Regisseur Edwin von Gewalt und reflektiert damit die jüngste Geschichte von Indonesien anhand von Ajo Kawir (Marthino Lio), einem furchtlosen Raufbold und Draufgänger. Was aber ebenso alle wissen: Ajo kompensiert mit seinem Mut seine männlichen Unzulänglichkeiten. Der Actionfilm ist der etwas überraschende, aber sicherlich verdiente Gewinner des Goldenen Leoparden in Locarno 2021.

4 von 5 ★

Petite Solange

© Frenetic Films

Solange ist ein typischer Teenager. Ihr Leben spielt sich vor allem in der Schule und zu Hause ab und sie beginnt sich allmählich für «Jungs» zu interessieren. Langsam gerät aber die Familienkonstellation ins Wanken: Ihr quirliger Vater und ihre Mutter haben immer mehr Uneinigkeiten und der Schatten einer möglichen Scheidung rückt näher und legt sich langsam auch auf Solanges Gemüt. Das alles ist schwere Kost, die den Zuschauenden serviert wird und der Film wirkt durch die Schnittfolge teilweise etwas abgehackt. Dagegen kann man eine bezaubernde Hauptdarstellerin stellen, die absolut eindrücklich Solange verkörpert und den Film zu einem berührenden Porträt macht.

3 von 5 ★

Hinterland

Mehr als düster ist es für Peter: Der Krieg und seine siebenjährige Kriegsgefangenschaft haben tiefe Spuren in Gesicht und Seele des ehemaligen Kriminalbeamten hinterlassen. Als er 1920 nach Wien zurückkehrt muss er sich nicht nur auf die Suche nach Frau und Kind begeben, sondern es ist ihm bereits ein blutrünstiger Serientäter auf den Fersen. Dem Regisseur Stefan Ruzowitzky ist ein interessanter Mix der Machart von «Sin City» und Elemente von «Babylon Berlin» gelungen. Aber Achtung Ruzowitzky und seine Crew scheuen nicht davor zurück, blutrünstige Bilder der Morde à la «Se7en» zu zeigen.

3.5 von 5 ★

Belle: Ryū to sobakasu no hime

© Filmcoopi

Ein hervorragend aussehender Popstar mit perfekt-gestyltem rosa Haar steht auf dem Rücken eines Buckelwals und fliegt durch eine Cyberspace-Realität. Der Name des Rockstars ist Belle und sie beginnt ein Lied zu singen, das aus riesigen Lautsprechern auf dem Rücken eines Wals ertönt. Aber Achtung, das geschilderte Szenario entspricht nicht der tatsächlichen Lebensrealität der Hauptprotagonistin: Im wirklichen Leben ist Belle Suzu, ein 17-jähriges Mädchen, das seine Mutter bei einem tragischen Unfall verloren hat und dessen Leben seither von Trauer geprägt ist. Der Anime-Film von Mamoru Hosoda kann als gut gelungenes und modern aufbereitetes Märchen mit Bezügen zu «Die Schöne und das Biest» bezeichnet werden.

3 von 5 ★

Monte Verità

© DCM Film

Der Monte Verità sollte eigentlich jedem Südschweizgänger ein Begriff sein: Auf dem verwilderten Weinberg oberhalb von Ascona versammelten sich vor gut hundert Jahren einige Aussteiger um ein anderes Leben zu führen. Inmitten dieser historischen Begebenheit wird die Geschichte einer mutigen Frau erzählt, die entgegen der bürgerlichen Konventionen versucht ihren eigenen Weg aus der Depression und der Fremdbestimmung zu gehen. «Monte Verità» ist in diesem Jahrgang der prominenteste Schweizer Beitrag in Locarno: Regie geführt hat Stefan Jäger und mit Joel Basman und Max Hubacher sind zwei bekannte Schauspieler dabei – diese und vor allem die Hauptprotagonistin (Maresi Riegner), machen den Film zu einem interessanten Vergnügen.

3.5 von 5 ★

Soul of a Beast

Zwischen der Langstrasse und der Zürcher Goldküste versucht der Teenager-Vater Gabriel (süsse 17 Jahre alt, gespielt von Pablo Caprez) sein Leben in den Griff zu kriegen. Als er sich dann auch noch in die Freundin seines besten Freundes Joel verliebt, engleiten ihm immer mehr die Zügel über sein Leben, über seine Verantwortung als viel zu junger, alleinerziehender Vater und über den Wunsch nach Freiheit und Unabhängigkeit. Der Schweizer Autor und Regisseur Lorenz Merz hat einen fiebrigen, wilden und schnellen Film erschaffen mit einem hemmungslosen Mix aus surrealen Sequenzen und verschiedenen Genres: dies alles ist neu und packend, hat aber auch etwas Überlänge und einige Wiederholungen.

3 von 5 ★

Film Balkonowy

So einfach kann man scheinbar einen Dokumentarfilm machen: Der polnische Regisseur Pawel Lozinski stellt seine Kamera und ein Richtrohrmikrofon auf den Balkon seiner Warschauer Wohnung und filmt frisch und munter was sich unten auf der Strasse abspielt. Mit viel Feingefühl befragt er die zufällig Passierenden über ihr Leben, ihre Ansichten und Schwierigkeiten. Entstanden ist ein überraschend berührendes Porträt unterschiedlichster Menschen und skizziert wie sie versuchen ihr Leben zu bewältigen. Alle Eindrücke zusammen ergeben ein faszinierendes gesellschaftliches Porträt des zeitgenössischen Lebens, der Sorgen und Zweifel von Leuten verschiedenster Schichten und bietet einen Einblick in heutige Lebenswelten: dies alles ist einfach nur interessant, berührend und sehr aufschlussreich.

4.5 von 5 ★

Niemand ist bei den Kälbern

Was für ein Kaff! Eine Bushaltestelle, einige Häuser, viele Kühe und noch mehr Felder. Hier lebt und arbeitet die 24-jährige Christin mit ihrem Freund Jan auf einem Bauernhof. «Tristess pur». Dazu gestaltet sich die Beziehung mit Jan eher lieblos, das laute Anschweigen ist für beide zur Hauptkommunikationsform geworden und Christin zeigt immer mehr Interesse am Kirschlikör. Der geschilderte Film basiert auf dem gleichnamigen Buch von Alina Herbing und wurde nun unter der Regie von Sabrina Sarabi in Szene gesetzt. Allen voran aber begeistert die Hauptdarstellerin Saskia Rosendahl («Fabian oder der Gang vor die Hunde») durch ihr einfühlsames Spiel. Die bewegende und filmisch wunderbar umgesetzte Sozialstudie gehört zu den Highlights des diesjährigen Festivals in Locarno.

4 von 5 ★

Free Guy

© Disney Schweiz

Eigentlich hätte man «Free Guy» nicht viel zugetraut und ist von einer eher flachen Komödie ausgegangen: Aber der neue Streifen von Regisseur Shawn Levy («Stranger Things», «Nachts im Museum») ist erfrischend gut. Der Film handelt von einem Videospiel in dem Guy (Ryan Reynolds) ein einfacher Bankangestellter ist, der jeden Tag mehrere Banküberfälle über sich ergehen lassen muss. Als er aber dann der Figur Molotov Girl (Jodie Comer) begegnet, beginnt er zu erahnen, dass er in Wirklichkeit (nur) eine Hintergrundfigur (ein sogenannter Non-Player-Charakter, NPC) eines Videospiels ist. Natürlich ist «Free Guy» kein tiefgründiger Arthouse-Film, aber er beleuchtet trotzdem einige spannende Aspekte und ist vor allem sehr unterhaltsam.

3.5 von 5 ★

100 Minutes

Filipp Olegowitsch Jankowski überraschte bei der Weltpremiere auf der Piazza Grande in Locarno mit seiner auf Italienisch gehaltenen Dankesrede für die Einladung. Weniger dankbar kann die Figur sein, die er im präsentierten Film verkörpert: Er spielt Ivan Denisovich, der wie Tausende sowjetische Soldaten gegen die Nazis kämpften und ihr einziges Verbrechen darin bestand, dass sie von den Nazis gefangen genommen wurden. Ganze zehn Jahre Zwangsarbeit im sowjetischen Gulag musste Ivan erdulden. 100 Minutes ist damit die Verfilmung des berühmten Romans von Aleksandr Solzhenitsyn «Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch» und ist eine Schilderung die unter die Haut geht: Die unfassbaren körperlichen und seelischen Herausforderungen sind kaum zu ertragen und brennen sich langsam in Ivan ein, der dabei versucht den Verstand und die «Menschlichkeit» nicht zu verlieren.

3 von 5 ★

Ostrov – Lost Island

Ein ausdruckstarkes Gesicht, tiefe Falten und leuchtende Augen: Für Ivan (50), den eigensinnigen Nachfahren einer Fischerdynastie, gibt es nur die Möglichkeit durch den illegalen Fischfang für seine Familie aufzukommen. Deswegen wurde er bereits wegen Wilderei verurteilt. Aber was soll er soll er sonst machen? Auf der Insel Ostrov im Kaspischen Meer können die Bewohnenden seit dem Zerfall der Sowjetunion nur so überleben. Der Dokumentarfilm von Svetlana Rodina und Laurent Stoop zeigt in einprägsamen Bildern eine dystopische Insel voller Geheimnisse und Widersprüche, aber auch eine eingeschworene und solidarische Gemeinschaft. Interessant ist ausserdem die Orientierung an Putin und der nationalen Einheit, in den entlegensten Orten des russischen Landesgebietes. Ein geglücktes und aufschlussreiches Fundstück, für all jene, die gerne mal aus ihrem Tellerrand in die Welt blicken.

3.5 von 5 ★

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