Critique31. Mai 2019

Netflix-Kritik: Die Miniserie «When They See Us» rollt einen skandalösen Kriminalfall auf

Netflix-Kritik: Die Miniserie «When They See Us» rollt einen skandalösen Kriminalfall auf
© Netflix

Wenn das Rechtssystem versagt: In ihrer vierteiligen Miniserie beschreibt Ava DuVernay («Selma») das Schicksal von fünf Jugendlichen, die fälschlicherweise für ein grausames Verbrechen verurteilt wurden.

Filmkritik von Christopher Diekhaus

Der Glaube an den Rechtsstaat ist ein zentrales Merkmal demokratischer Gesellschaften und trägt entscheidend zu einem geordneten Zusammenleben bei. Widerfährt einem Bürger Unrecht, sollte er auf Ermittlungsbehörden und Justizapparat zählen und darauf vertrauen können, dass der Wahrheit am Ende zum Durchbruch verholfen wird. Immer mal wieder gibt es jedoch skandalöse Fälle, die unglaubliches Leid über unschuldige Menschen bringen und gerade deshalb mahnenden Charakter haben.

Regisseurin und Drehbuchautorin Ava DuVernay erzählt in ihrer für den Streaming-Riesen Netflix produzierten Miniserie «When They See Us» die wahre Geschichte von Antron McCray (jung: Caleel Harris/erwachsen: Jovan Adepo), Kevin Richardson (Asante Blackk/Justin Cunningham), Yusef Salaam (Ethan Herisse/Chris Chalk), Raymond Santana (Marquis Rodriguez/Freddy Miyares) und Korey Wise (durchgängig gespielt von Jharrel Jerome), deren Dilemma schon der preisgekrönte Dokumentarfilm «The Central Park Five» auf erschütternde Weise nachzeichnete.

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Im April 1989 wurde eine junge Joggerin namens Trisha Meili (Alexandra Templer) im New Yorker Central Park attackiert und brutal vergewaltigt. Ein Angriff, den die anschliessend von Gedächtnislücken geplagte Frau schwer gezeichnet überlebte. Sehr schnell gerieten die oben genannten Jugendlichen aus dem Stadtteil Harlem – vier Afroamerikaner und ein Hispanoamerikaner – ins Visier der Chefermittlerin Linda Fairstein (geradezu diabolisch: Felicity Huffman), da sie zur fraglichen Zeit mit einer randalierenden Teenager-Gruppe durch die Parkanlage gezogen und von der Polizei aufgegriffen worden waren.

Unmissverständlich zeigt DuVernay auf, dass die Ermittlungsarbeit in erheblichem Masse von rassistischen Überlegungen gelenkt wird.– Cineman-Filmkritiker Christopher Diekhaus

Ohne ihre Hauptfiguren lange einzuführen, schleudert DuVernay den Zuschauer in Folge eins gleich in die verhängnisvolle Nacht und die danach anrollenden Nachforschungen hinein. Fairstein und ihre Kollegen versteifen sich – so zeigt es die Netflix-Produktion schonungslos – umgehend auf Antron, Kevin, Yusef, Raymond und Korey als Tatverdächtige, scheuen nicht davor zurück, die Abläufe ihrer fragwürdigen Theorie anzupassen, und setzen die vollkommen überforderten 14- bis 16-jährigen Beschuldigten in den Verhören massiv unter Druck. Mit dem Ergebnis, dass die Videos der unter Zwang abgegebenen Geständnisse bei den Gerichtsprozessen die fehlenden Sachbeweise in den Hintergrund drängen und eine Verurteilung herbeiführen.

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Unmissverständlich zeigt DuVernay auf, dass die Ermittlungsarbeit in erheblichem Masse von rassistischen Überlegungen gelenkt wird. Im Handumdrehen diskreditiert man die fünf Jugendlichen, die sich zum Teil vorher gar nicht kannten, als Mitglieder einer Gang. Und allzu leicht instrumentalisieren die Polizisten – ebenso wie die Medien – die Tatsache, dass es sich bei dem Opfer um eine weisse Frau aus gutem Hause handelt. Von Anfang an hat man das Gefühl, dass allein ihre Hautfarbe Antron, Kevin, Yusef, Raymond und Korey aus Sicht der Beamten zu den einzig denkbaren Verantwortlichen macht.

Erzählerisch hätte sich die afroamerikanische Regisseurin rückblickend wahrscheinlich etwas mehr Raum gönnen sollen.– Cineman-Filmkritiker Christopher Diekhaus

«When They See Us» will ganz gezielt empören und setzt immer wieder stark aufwühlende, vor allem von eindringlichen Schauspielleistungen lebende Akzente. In ihrer Inszenierung trägt DuVernay manchmal etwas dick auf und überschreitet gelegentlich die Grenze zum aufdringlichen Pathos. Erzählerisch hätte sich die afroamerikanische Regisseurin rückblickend wahrscheinlich etwas mehr Raum gönnen sollen. Wenn eine 25 Jahre umfassende Geschichte – in den Fokus geraten auch die schmerzhafte Gefängniszeit und das Leben danach – in vier Episoden gepackt wird, ergeben sich zwangsläufig Verknappungen und grosse Sprünge. Verglichen mit der brillanten Rekonstruktion eines realen Verbrechens in der zehnteiligen FX-Serie «American Crime Story: The People v. O. J. Simpson» wirkt DuVernays Chronik gehetzter und weniger facettenreich.

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Dass es dennoch enorm wichtig ist, an das Schicksal der fünf nachträglich freigesprochenen und entschädigten jungen Männer zu erinnern, lässt sich angesichts der nach wie vor von Rassismus und Diskriminierung geprägten US-Gesellschaft nicht bestreiten. Grosses Unbehagen beschleicht einen vor allem dann, wenn «When They See Us» die damalige Rolle Donald Trumps beleuchtet, der seinen Hass auf die mutmasslichen Täter in die Welt hinausschrie und in grossen Zeitungsanzeigen sogar die Wiedereinführung der Todesstrafe forderte. Ausgerechnet dieser Mann, der die Schuld der Central Park Five noch Jahre nach dem Freispruch öffentlich bekräftigte, bekleidet nun das Amt des Präsidenten.

3,5 von 5 ★

«When They See Us» ist ab sofort auf Netflix verfügbar.

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