Kritik4. Juni 2021

Netflix-Kritik «Sweet Tooth»: Mensch-Hirsch-Protagonist in postapokalyptischer Welt

Netflix-Kritik «Sweet Tooth»: Mensch-Hirsch-Protagonist in postapokalyptischer Welt
© Netflix

Jeff Lemires von einem Virusausbruch erzählende DC-Comicreihe «Sweet Tooth» kommt als achtteilige Serie zu Netflix. In Zeiten der Corona-Pandemie wirkt die von Robert Downey Jr. als ausführender Produzent mit auf den Weg gebrachte Adaption trotz märchenhafter und fantastischer Elemente seltsam vertraut.

Filmkritik von Christopher Diekhaus

Was tun, wenn ein tödlicher Erreger Chaos und Verderben mit sich bringt? Wenn die zivile Ordnung plötzlich zusammenbricht? Und wenn sich alle Gewissheiten in Luft auflösen? In Trey Edward Shults‘ Horrorthriller «It Comes at Night» aus dem Jahr 2017 zieht sich die im Mittelpunkt stehende Familie tief in den Wald zurück. Dorthin, wo niemand sie finden und das Virus sie nicht erreichen soll. Komplette Isolation und Misstrauen gegenüber allen Fremden lauten die Antworten auf die Katastrophe. Antworten, die den Lauf des Unheils jedoch nicht aufhalten können.

«Sweet Tooth» schlägt anfangs einen ähnlichen Weg ein. Nach dem Ausbruch einer verheerenden Pandemie ist die Welt, wie wir sie kennen, Geschichte und wird zudem erschüttert von wundersamen Geburten eigenartiger Hybridgeschöpfe aus Mensch und Tier, denen viele Überlebende schnell die Schuld am Aufkommen des H5G9-Erregers geben. Die Angst vor dem Unbekannten ist der Nährboden für eine Hetzjagd auf alle Mischwesen. Dieser entzieht sich ein Mann (Will Forte) mit seinem Hybridbaby namens Gus, indem er tief in die Wildnis des Yellowstone-Nationalparks vordringt und mitten im Unterholz ein Refugium errichtet, das er sorgsam vor allen äusseren Einflüssen abschirmt. Seinem Sohn tischt er notfalls Lügen auf, um ihn davon abzuhalten, Interesse für das zu entwickeln, was jenseits der eng gesteckten Grenzen liegt.

Die Angst vor dem Unbekannten ist der Nährboden für eine Hetzjagd auf alle Mischwesen.– Cineman-Filmkritiker Christopher Diekhaus

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In einigen Momenten mutet die Zweisamkeit wie die Erfüllung eines fröhlichen Aussteigerdaseins an. Gleichzeitig liegt aber stets der Schatten der Bedrohung über dem Versteck. Und noch dazu fragt man sich, ob der Vater seine Position nicht zu sehr ausnutzt und seinem Kind – einer Kreuzung aus Mensch und Hirsch – letztlich ein Leben ohne echte Perspektive aufzwingt. Wie zu erwarten, regt sich irgendwann bei Gus (Christian Convery) die Neugier auf das Verbotene. Und nach einer Verkettung unglücklicher Umstände, fasst der über einen ungemein guten Geruchssinn verfügende Hybride mit dem Hirschgeweih und den Hirschohren den Entschluss, seinen Zufluchtsort zu verlassen, um seine ihm nur von einem Foto bekannte Mutter (Amy Seimetz) im Bundesstaat Colorado zu suchen.

Eine Party in der Nachbarschaft des Ehepaares illustriert auf schauerliche Weise, welch paranoide Haltungen und grausame Auswüchse die Furcht vor dem Virus hervorgebracht hat.– Cineman-Filmkritiker Christopher Diekhaus

In der Auftaktfolge passiert handlungstechnisch noch herzlich wenig. Die Showrunner Jim Mickle («Cold in July») und Beth Schwartz («Arrow») versorgen den Zuschauer in erster Linie mit Exposition, führen uns behutsam in das Storysetting ein und reissen Grundkonflikte an. Erst gegen Ende der Episode schaltet «Sweet Tooth» in den nächsten Gang. Dann nämlich, als Gus vom Hünen Tommy Jepperd (Nonso Anozie) aus den Klauen zweier Last Men, brutaler Hybriden-Jäger, befreit wird. Während der Retter danach allein weiterziehen will, sieht der Junge in ihm einen hilfreichen Weggefährten und lässt sich nicht mehr so leicht abschütteln. Die ungewöhnliche Konstellation – hier der naive, von der Aussenwelt immer wieder überraschte Gus, dort der bärige Beschützer wider Willen – setzt in den ersten vier Kapiteln, auf denen die vorliegende Kritik basiert, noch nicht die ganz grossen Ausrufezeichen. Im weiteren Verlauf könnte sich das allerdings ändern, zumal gewichtige Fragen im Raum stehen: Wie verhalte ich mich in einer Welt, in der nichts mehr sicher ist? Schaue ich nur auf meinen eigenen Vorteil? Oder stehe ich auch Schwächeren bei? Lohnt es sich noch, an echtes Vertrauen zu glauben? Und nicht zuletzt: Was genau hat es mit den Hybriden auf sich?

Wenngleich der Hauptstrang einige ordentliche Spannungsmomente, reizvolle Begegnungen und Anspielungen auf die destruktiven Neigungen des Menschen bietet, fehlt ihm zur Hälfte noch etwas die Würze – auch in emotionaler Hinsicht. Als eindringlicher und überraschender erweist sich ein zweiter Erzählfaden, der um den Arzt Dr. Singh (Adeel Akhtar) und dessen mit dem Virus infizierte Ehefrau (Aliza Vellani) kreist. Zusammenhalt und Aufopferung kommen auf dieser Ebene zum Vorschein. Daneben aber auch einige abgründige Aspekte, die auf unbequeme Wendungen hoffen lassen. Eine Party in der Nachbarschaft des Ehepaares illustriert auf schauerliche Weise, welch paranoide Haltungen und grausame Auswüchse die Furcht vor dem Virus hervorgebracht hat. Zudem steht Singh an einer moralisch-ethischen Schwelle, die Frankenstein in Mary Shelleys berühmtem Roman überschreitet.

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Komplettiert wird der Plot durch einen dritten Strang mit der ehemaligen Therapeutin Aimee (Dania Ramirez) im Zentrum. Einer Frau, die in ihrem alten Leben antriebslos war und erst im Angesicht der Katastrophe ihre Bestimmung findet. Potenzial für aufregende Verwicklungen ist sicher vorhanden. In den ersten vier Episoden erhält dieser Handlungsteil aber schlichtweg nicht genug Raum, um in besonderem Masse auftrumpfen zu können.

Erzählerisch lässt die von der Düsternis der Comicvorlage abweichende Serie bis zur Mitte noch zu selten ihre Muskeln spielen. Das Auge des Betrachters kann sich jedoch auf üppiges Futter freuen. Die imposanten Landschaftsbilder – gedreht wurde in Neuseeland – laden ein ums andere Mal zum Staunen ein. Und von der Natur langsam zurückeroberte, einst lebendige Schauplätze schwanken zwischen trostlos-verwahrlost und malerisch-urtümlich. Ob einige ganz konkrete Verweise – etwa ein 1,5-Meter-Abstandsschild – auf die reale Corona-Lage notwendig gewesen wären, ist zumindest diskutabel. Die Erinnerung an den realen Schrecken ist durch das Virusmotiv ohnehin präsent genug. Den Holzhammer hätten die Drehbuchautoren daher ruhig auch in ihrem Werkzeugkasten liegen lassen können.

3,5 von 5 ★

«Sweet Tooth» ist ab sofort auf Netflix verfügbar.

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