Kritik9. Februar 2022

Netflix-Kritik «Inventing Anna»: Verblendet

Netflix-Kritik «Inventing Anna»: Verblendet
© Netflix

Starke, eigenwillige Frauen stehen in den Arbeiten der US-amerikanischen Drehbuchautorin und Produzentin Shonda Rhimes häufig im Mittelpunkt. So auch in ihrer für Netflix entwickelten Miniserie «Inventing Anna», die mit einigen Ausschmückungen den unglaublichen wahren Fall der deutschen Betrügerin Anna Delvey (Geburtsname: Anna Sorokin) nachzeichnet.

Filmkritik von Christopher Diekhaus

Wie schafft es eine Frau, die aus unspektakulären Verhältnissen stammt, mit Mitte 20 reihenweise Menschen aus der New Yorker High Society, Hotelketten und Banken um den Finger zu wickeln, ein Leben in Saus und Braus zu führen, obwohl sie eigentlich keine sprudelnden Finanzquellen besitzt? Diese Frage treibt in «Inventing Anna» die fiktive Journalistin Vivian (Anna Chlumsky) um, deren Karriere durch eine frühere Story Schaden genommen hat.

Noch vor der baldigen Geburt ihres Kindes will die Reporterin ihren ramponierten Ruf aufpolieren und sieht ihre Chance gekommen, als sie im November 2017 über den Fall der in Russland geborenen, mit 16 Jahren nach Deutschland übergesiedelten Anna Delvey alias Anna Sorokin (Julia Garner) stolpert. Erst nach zähem Ringen darf sie ihren eigentlichen Auftrag – einen Artikel über MeToo-Vorkommnisse an der Wall Street – hinten anstellen und bekommt ein wenig Zeit für Recherchen über die junge Frau, die sich jahrelang als Millionenerbin ausgab und seit ihrer Verhaftung auf Rikers Island einsitzt.

«Inventing Anna» legt ein flottes Erzähltempo hin und erzeugt durch ständige Zeitsprünge, schnelle Schnitte, fetzige Musikstücke und visuelle Spielereien eine enorme Dynamik...– Cineman-Filmkritiker Christopher Diekhaus

Dass die ganze Sache kein Selbstläufer ist, merkt Vivian schnell. Nicht nur gehen die bislang bekannten Meinungen über Delvey deutlich auseinander. Auch die Hochstaplerin selbst erweist sich als widerspenstige Gesprächspartnerin und ziert sich zunächst, einem ausführlichen Interview zuzustimmen. «Sind Sie schwanger oder einfach nur fett?», schleudert Anna Vivian bei ihrem ersten Treffen entgegen. Schon hier zeichnet sich ab, dass die auf einem Magazinartikel basierende Netflix-Produktion nicht den Fehler macht, die real existierende Persönlichkeit in ihrem Zentrum bedingungslos zu verherrlichen.

In einer Art Quid-pro-quo-Pakt, der an das Arrangement in «Das Schweigen der Lämmer» erinnert, einigt sich die Zeitungschreiberin am Ende der ersten Folge mit Anna auf weitere Unterredungen und bewirkt, dass die Angeklagte einen von der Staatsanwältin (Rebecca Henderson) offerierten Deal ausschlägt und es auf einen Prozess ankommen lässt.

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Wie manch andere Shonda-Rhimes-Projekte – siehe etwa «How to Get Away with Murder» – legt auch «Inventing Anna» ein flottes Erzähltempo hin und erzeugt durch ständige Zeitsprünge, schnelle Schnitte, fetzige Musikstücke und visuelle Spielereien – zum Beispiel aufpoppende Instagram-Accounts – eine enorme Dynamik, die gelegentlich allerdings ein wenig krampfhaft wirken kann. Da sich Delvey vor ihrer Festnahme in höchst exklusiven Kreisen bewegte, entführt uns die in Hochglanzbildern erstrahlende Miniserie regelmässig an luxuriös-elegante Schauplätze.

Den augenzwinkernden Hinweis gleich zum Einstieg – diese Geschichte sei komplett wahr, bis auf alle völlig erdachten Teile – sollte man freilich ernst nehmen.– Cineman-Filmkritiker Christopher Diekhaus

Zweifellos haftet dem beissenden Blick auf die New Yorker Oberschicht etwas Soapiges an. Zugleich gelingt es Rhimes aber, ein spannendes, durchaus komplexes, zum Teil bewusst widersprüchliches Porträt zu entwerfen. Über Vivians Gespräche mit Bekannten und Opfern Annas tauchen wir immer wieder in die Vergangenheit ein und lernen eine von ihrer Genialität überzeugte Frau mit vielen Gesichtern kennen. Den augenzwinkernden Hinweis gleich zum Einstieg – diese Geschichte sei komplett wahr, bis auf alle völlig erdachten Teile – sollte man freilich ernst nehmen. Versucht jeder Interviewte doch, sich selbst im bestmöglichen Licht darzustellen und die eigenen Fehler zu verschleiern. Alle, auch Delvey selbst, erfinden sich, wie es der Titel bereits ankündigt, in gewisser Weise ihre eigene Anna.

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Eine weitere Perspektive eröffnen die Gefängnisbegegnungen zwischen der Betrügerin und Vivian, in denen die Überheblichkeit der Fake-Erbin und ihre fehlende Einsicht unmissverständlich zu Tage treten. Nebenbei thematisiert die Miniserie auch, wie sehr Frauen noch heute in ihren beruflichen Ambitionen beschnitten werden. Ein interessanter Ansatz, den die Figuren gelegentlich aber zu explizit ausformulieren. Nach den für diese Kritik gesichteten ersten drei Episoden entsteht dennoch ein irritierend-faszinierendes Mosaik über eine Protagonistin, an der man sich wunderbar reiben kann. Die Neugier auf die restlichen sechs Folgen ist auf jeden Fall geweckt!

3.5 von 5 ★

«Inventing Anna» ist ab Freitag auf Netflix verfügbar.

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