Interview16. Oktober 2023

Interview: Alice Rohrwacher über «La chimera»: «Man muss sich verlieren, um etwas zu finden»

Interview: Alice Rohrwacher über «La chimera»: «Man muss sich verlieren, um etwas zu finden»
© ZFF

In Alice Rohrwachers aktuellem Film «La chimera» geht es um Grabräuberei, eine verlorene Liebe und einen jungen Mann mit nahezu übersinnlichen Fähigkeiten. Im Rahmen des Zurich Film Festivals trafen wir die Regisseurin und sprachen mit ihr über übergreifende Themen ihrer Filme, den Glauben an die Mystik und den Traum, Italienischlehrerin zu werden.

Interview von Maxime Maynard, übersetzt von Maria Engler

Nach «Land der Wunder» und «Lazzaro felice» ist Ihr neuer Spielfilm «La chimera» der letzte Film einer Trilogie. Was hat Sie zu dieser Trilogie inspiriert?

Alice Rohrwacher: Das habe ich an einem Punkt gesagt, aber es ist nicht wirklich eine Trilogie. In allen drei Filmen gibt es die gleiche Frage nach Vergangenheit und Identität. Sie erzählen davon, welche Aspekte der Vergangenheit wir verdrängen. In «Land der Wunder» nimmt eine Familie an einem Wettbewerb teil, bei dem es darum geht, wer die typischste Familie ist. In «Lazzaro felice» erzähle ich von dem Widerspruch zwischen einer fast mittelalterlichen und einer zeitgenössischen Welt. Hier, in «La chimera», sind es archäologische Objekte, die wir ganz unmittelbar anschauen können. Ein Vulkanausbruch kann drei Elemente in die Luft schleudern: Gas, Gestein und Lava. Man könnte also sagen, dass diese drei Filme die Elemente desselben Vulkanausbruchs sind: aber es sind drei separate Spielfilme.

Bedeutet das, dass Sie diese Thematik fortsetzen und eine Reihe von Geschichten entwickeln könnten, die über eine Trilogie hinausgehen?

Alice Rohrwacher: Ich plane bereits mein nächstes Projekt. Wenn man einen Film macht, braucht das so viel Zeit und Mühe, dass die Fragestellungen nie oberflächlich sind. Es sind Fragen, die man tief in seinem Inneren stellt. Im Moment versuche ich, etwas zu machen, das ein bisschen mehr in Richtung Science-Fiction geht, aber immer mit dieser Fragestellung über das Menschliche, über den Verlust der Menschlichkeit und wie man sie wiederfinden kann. Diese Themen bleiben auf jeden Fall wichtig für mich.

Carol Duarte als Italia und Josh O'Connor als Arthur in «La chimera» © Filmcoopi

Die Hauptfigur Arthur in «La chimera» ist ein junger Brite. Stand seine Nationalität von Anfang an fest?

Alice Rohrwacher: Ja. Im Moment gibt es in Italien viel Rassismus, aber wir kämpfen dafür, gegenüber Ausländern offen zu sein. Bei der Figur der Italia, die von der Brasilianerin Carol Duarte gespielt wird, war ich mir nicht sicher. Ich wusste nicht, woher die Figur kommen würde. Für mich kam sie aus dem Nichts. Aber ich dachte mir, dass es gut wäre, eine Person mit einem solchen Namen, Italia, zu haben, die keine Italienerin ist. Aber für Arthur war es wichtig, dass seine Figur ein Ausländer ist. Manchmal brauchen wir einen fremden Blick, um unseren kulturellen Reichtum zu erkennen. Alle archäologischen Forschungen haben mit Ausländern begonnen.

Die Italiener leben seit jeher neben den Ruinen, aber sie betrachteten sie als etwas, das schon immer da gewesen war. Es waren ausländische Besucher, die der Vergangenheit Bedeutung verliehen. Im 18. und 19. Jahrhundert kamen sie nach Italien und gaben diesen Dingen einen Wert. Deshalb wollte ich das Zeugnis eines jungen Engländers, der nach Italien kommt und sich in diese Ausgrabungsstätten verliebt.

Sprach Josh O'Connor, der Darsteller von Arthur, bereits Italienisch?

Alice Rohrwacher: Nein, er hat es gelernt. In jedem meiner Filme bringe ich am Ende jemandem Italienisch bei. In «Land der Wunder» sprach der Schauspieler, der den Vater spielte, es nicht. Und in «Lazzaro felice» hatten wir deutsche Schauspieler, die die Bauern spielten, die Altitalienisch lernen mussten. Hier ist er der Hauptdarsteller. Mein heimlicher Traum ist es, Italienischlehrerin zu werden.

Ausgrabungen in «La chimera» © Filmcoopi

Arthur wird von der Erinnerung an seine vergangene Liebe verfolgt. Ist es unmöglich, dass die Vergangenheit einfach nur Vergangenheit bleibt?

Alice Rohrwacher: Ich habe viele romantische Bücher gelesen, in denen die Helden von einem Schmerz gequält werden, der nicht überwunden werden kann. Ich wollte einen Helden schaffen, der zutiefst romantisch ist, gebunden an etwas, das er nicht finden kann, auch um seine Leidenschaft für die Suche zu rechtfertigen.

Was mich bei der Begegnung mit den Tombaroli-Banden interessierte, war, dass sie sehr vulgäre und materialistische Männer sind. Sie sind vom Geld besessen, aber sie akzeptieren auf eine sehr einfache Art und Weise das Unsichtbare. In jeder Bande gibt es jemanden mit gewissen mystischen Fähigkeiten. Sie haben eine ganz alltägliche Beziehung zum Mystizismus, das hat mich beeindruckt. Wäre der Spielfilm nach amerikanischem Vorbild gedreht worden, hätten wir uns auf das Geheimnis dieser Fähigkeit konzentriert. Bei den Trombaroli ist das nicht einmal ein Thema. Es gibt sie einfach und es ist nicht wichtig zu wissen, warum. Aber ich wollte Arthurs Kräften trotzdem eine tiefere Essenz geben und ich fand, das sollte die Liebe sein.

Die Trombaroli sehen das Fantastische also als etwas sehr Normales an. Das ist doch auch ein bisschen bei Ihnen der Fall, oder?

Alice Rohrwacher: Ich glaube, dass wir diese Verbindung zum Aussergewöhnlichen verloren haben, dass aber die Möglichkeit, dass es existiert, sehr wichtig ist. Aussergewöhnlich und gewöhnlich sollten auf die gleiche Weise behandelt werden, aber wir haben diese Fähigkeit verloren. In meinen Filmen zeige ich gerne, dass das Sichtbare und das Unsichtbare irgendwie das Gleiche sind. Das eine existiert nicht ohne das andere. Wir leben in einer Zeit, in der wir versuchen, alles zu klassifizieren und zu trennen, aber ich versuche, Filme zu machen, die Symbole mit vielen verschiedenen Emotionen vermischen, denn der Mensch ist komplex.

Kann man das Gesuchte Ihrer Meinung nach nur finden, wenn man sich verirrt?

Alice Rohrwacher: Sicherlich muss man sich auch verlieren, um etwas zu finden. Man muss mehr Spass an der Suche haben als an dem Wunsch, etwas zu erreichen. Ein Hirngespinst ist etwas, das man niemals zu fassen bekommt, aber nach dem man sich sehnt.

Weitere Informationen zu «La chimera»

Seit dem 12. Oktober im Kino zu sehen.

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