Artikel8. November 2023

Internationale Kurzfilmtage Winterthur: News und Reviews

Internationale Kurzfilmtage Winterthur: News und Reviews
© Internationale Kurzfilmtage Winterthur

Vom 7.-12. November 2023 steht Winterthur zum 27. Mal im Zeichen des kurzen Films. Auf dem Programm der Internationalen Kurzfilmtage Winterthur stehen 272 Filme aus allen Teilen der Welt. Das Team von Cineman ist natürlich vor Ort, um über die spannendsten Kurzfilme zu berichten.

Sämtliche Vorführungen im Wettbewerb, sowie einzelne Vorführungen der thematischen Programme werden moderiert vorgeführt. Wo die Filmschaffenden anwesend sind, findet anschliessend an die Vorführung eine kurze Fragerunde statt: Das (angeregte) Reden – und Nachdenken – über Filme wird in Winterthur seit jeher gross geschrieben.

Ergänzt wird das filmische Programm mit Ausstellungen, Installationen und Performances. Sie finden rund um das Festivalzentrum auf dem Sulzerareal statt und finden sich im Programm unter «Expanded Cinema» angekündigt. Im Zentrum dieser Arbeiten steht dieses Jahr – ganz dem Geist der Gegenwart verpflichtet – der Mensch, sein Umgang mit der Natur und die Frage, wie und was er von der Umwelt lernen kann.

«Nuisance Bear»

Jack Weisman, Gabriele Osio Vanden | Kanada 2021 | 15 min

Als “Nuisance Bear” bezeichnet man einen wilden Bären, der sich so sehr an Menschen gewöhnt hat, dass er in deren Umgebung sein Futter sucht. Das ist kein Problem, solange der Bär nicht übermässig hungrig ist – und die Menschen respektvoll Abstand halten. Jack Weismans und Gabriela Osio Vandens Film spielt aber in Churchill, Manitoba, einer Kleinstadt an der Südwestküste der Hudson Bay, mit rund 900 Einwohnern. Hier tauchen im Herbst regelmässig Eisbären auf, die darauf warten, dass das Meer zufriert und sie Robben fangen können.

Seit einigen Jahren tauchen zusammen mit den Bären tausende Touristen auf, gierig nach einem Foto mit Eisbären in freier Natur. Und diese “Paparazzis” verhalten sich, anders als die Einheimischen, den Bären gegenüber alles andere als klug. Weisman und Osio Wanden haben das befremdliche Treiben während fünf Jahren beobachtet, aus der Blickhöhe und auch aus der Perspektive der Bären – es dürften vier oder fünf verschiedene sein. Sie zwingen dem Publikum damit nicht nur den Blick auf die eigene Spezies auf, sondern fordern mit ihrem – kommentarlos gehaltenen – Film auch vehement dazu auf, über das eigene Verhalten im Umgang mit Natur (und Klima) nachzudenken.

4.5 von 5 ★

«There Is No End to This Story»

Cosima Frei | Deutschland, Schweiz | 2023 | 17 min

© Kurzfilmtage Winterthur

Sie wolle im Ausland etwas Neues anfangen, erklärt Mena dem Smartphone-Händler, bei dem sie ihr Abonnement kündigt. Auf seine Frage, was denn mit dem Alten sei, entgegnet sie kurz angebunden, das sei passé. Die Konversation findet in einem kleinen Laden im Berliner Kiez statt, in dem Mena die letzten Jahre wohnte. Sie scheint etwas verloren zu sein. Treibt vor sich hin derweil sie ihre Wohnung räumt und bei der Trödlerin um die Ecke ihre Halskette mit Herzanhänger loszuwerden versucht. Herz sei aus der Mode, sagt die Händlerin. Und so freimütig wie der Handymann Mena erläuterte, was er in einer nächsten Beziehung besser machen werde, erklärt sie Mena, wie wichtig es ist zu gehen, wenn es nicht mehr stimmt…

Es kennen wohl die meisten das Gefühl schwindelerregender Leere und gleichzeitig einsetzender Erleichterung am Ende einer Beziehung. Doch man sieht diesen Moment kaum je derart stimmig auf die Leinwand gebracht wie in diesem bescheiden schwarz-weiss gehaltenen Film von Cosima Frei. Er mischt improvisierte Fiktion und dokumentarische Szenen und endet mit einem wunderschönen, von der Regisseurin interpretierten Sehnsuchts-Song von Lhasa de Sela. Müsste man einen Film nennen, an den «There Is No End to This Story» erinnert, dann wäre es «Broken Flowers» von Jim Jarmusch.

4 von 5 ★

«A Monster Called Love»

Sophia Lara Nimue Schweizer | Schweiz | 2023 | 13 min

© Kurzfilmtage Winterthur

Ursprünglich habe sie vorgehabt, als Bachelor-Arbeit einen Gothic Horror Film zu drehen, erzählte Sophia Lara Nimue Schweizer an den Kurzfilmtagen in Winterthur. Nachdem sie während der Arbeit am Drehbuch «ziemlich viel Kate Bush hörte», hat sie nun einen Film vorgestellt, der sich ungefähr als britisch angehauchtes Gothic-Rom-Com-Märchen umschreiben lässt. Er handelt von der jungen O, die schlecht träumt und am nächsten Tag durch einen Wald spaziert, über den allerlei Gruselgeschichten umgehen. Sie kommt zu einer Höhleneingang, wo sich ihr von hinten plötzlich zwei bekrallte Pfoten auf die Schultern legen. Sie gehören einem rosa bepelzten Elf mit zarter Stimme namens Love, mit dem sich O anschliessend stundenlang unterhält, ein schlabberiges Dessert erhält und fortan anderes träumt.

In ihrer schrulligen Kauzigkeit absolut liebreizend sind sowohl Love wie O, die sich zwischendurch wie eine Tänzerin durchs Leben bewegt, im Bett Spaghetti isst und durch die Löcher ihrer Netzstrümpfe Herzchen auf ihe Beine malt. Sophia Lara Nimue Schweizer hat «A Monster Called Love» weitgehend analog gedreht. Sie jongliert darin souverän mit Versatzstücken diverser Genres, verweist auf andere Filme und lässt dabei eine originelle eigene Handschrift erkennen. Da darf man gespannt sein, was die Absolventin der Zürcher Hochschule der Künste als nächstes vorstellt.

4 von 5 ★

«Granny’s Sexual Life»

Urška Djukić, Émilie Pigeard | Slowenien, Frankreich | 2021 | 13min

© Kurzfilmtage Winterthur

Den zwischen 1900 und 1950 in Slowenien geborenen Frauen, heisst es in «Granny’s Sexual Life», wurde vor allem eines beigebracht: zu schweigen. Sie sollten den Haushalt besorgen, auf dem Hof helfen, ihrem Mann gehorchen und gefällig sein und Kinder gebären. Was immer dabei hinter verschlossener Tür geschah, blieb hinter verschlossener Tür.

Einige dieser Frauen haben später aber doch erzählt. Ihre Aussagen finden sich im Buch «Fire, Butts and Snakes Are Not to Be Toyed With» von Milena Miklavčič und bilden, von anderen Frauen eingesprochen, die Grundlage von Urška Djukićs und Émilie Pigeards Film. Dieser zeigt zu Beginn Ausschnitte von Fotos von Frauen aus jener Zeit, denen solche von Männern folgen und präsentiert sich schliesslich über weite Strecken als Trickfilm im kruden Zeichenstil. Zum Schluss werden Frauen im Porträt gezeigt. Zwischendurch aber bleibt die Leinwand schwarz und man hört, was die Regisseurinnen bildlich nicht zeigen konnten oder wollten, und was beim Zuschauen erschaudern lässt. «Granny’s Sexual Life» wurde im Oktober 2021 am Slovenian Filmfestival uraufgeführt. Der Film hat danach fulminant Festivalkarriere gemacht und wurde 2022 mit dem Europäischen Film Award als bester Kurzfilm ausgezeichnet.

4.5 von 5 ★

«Diciassette»

Thomas Horat | Schweiz | 2023 | 17min

© Kurzfilmtage Winterthur

Es gibt Geschichten, die erzählt werden müssen, wie diejenige der Pazifistin Antonietta Chiovini. Thomas Horat erfuhr von der Italienerin durch ein Porträt in einer Zeitschrift. Er machte die 93-Jährige ausfindig und führte mit ihr zwei Gespräche. In diesen erzählt sie, wie mit 17 Jahren durch einen Priester erfuhr, was Faschismus ist – obwohl sie aus einer faschistischen Familie stammt. Zusammen mit anderen gründete sie eine antifaschistische Gruppe und trat den Partisanen bei. So wie andere Frauen schmuggelte sie fortan Essen, Medikamente, Waffen und Munition zu den Widerstandskämpfern in die Berge. Von den 350 Partisanen, zwischen denen sie hin- und herlief, erlebten gerade Mal 50 das Kriegsende.

In «Diciassette» legen sich über Chiovinis Erzählung Aufnahmen der Berge, Hügel und Täler, in denen diese Geschichte spielt; flüchtige Animationen bebildern das Erzählte zusätzlich. Chiovini selbst ist erst am Ende des Films zu sehen, auf zwei Fotos, die sie einmal als alte Frau, einmal in jungen Jahren zeigen. Es sei ihm, sagte Horat bei der Uraufführung in Winterthur, eine Ehre gewesen, Antonietta Chiovini kennen gelernt zu haben. Denn es brauche viel Mut, im Leben das Richtige zu erkennen und auch zu tun. Nachgerade mit eben erst 17 Jahren.

4 von 5 ★

«Terra Mater»

Kantarama Gahigiri | Ruanda, Schweiz | 2023 | 10min

Der Film «Terra Mater» der Ruanda-Schweizerin Kantarama Gahigiri macht seit seiner Weltpremiere an der Berlinale Short 2023 fulminant Festivalkarriere. Es ist ein futuristisch anmutendes, filmisches Gedicht, das mystisch angehaucht auf einer riesigen Müllhalde irgendwo in Afrika spielt. Es ist zugleich ein künstlerisch gestaltetes politisches Manifest, das auffordert der Mutter Erde Achtung zu zollen und der zerstörerischen Umweltverschmutzung und Plünderung von Bodenschätzen rigoros Einhalt zu bieten.

Gedreht hat Gahigiri «Terra Mater» in Dandora, einem Vorort von Nairobi, auf einer Müllhalde, deren Wachsen sie seit Jahren beobachtet. Die sich meterhoch türmenden Klippen aus Zivilisationsmüll muten an wie das Szenario eines dystopischen Science-Fiction-Films. Die darin anzutreffenden Figuren bewegen sich in Zeitlupe, eine von ihnen, die wie eine Herrscherin auf der Krete steht, symbolisiert den Erdgeist. Zwischendurch einmal, als ein Teil der Müllhalde in Flammen aufgeht, fordern die Anwesenden laut schreiend Respekt. Ein wuchtig schöner und sehr nachdenklich stimmender Film.

4.5 von 5 ★

«Pacific Club»

Valentin Noujaïm | Katar, Frankreich | 2023 | 16min

© Kurzfilmtage Winterthur

«Pacific Club» ist der erste Teil einer Trilogie, in der sich der in Frankreich als Sohn libanesischer und ägyptischer Eltern geborene Künstler Valentin Noujaïm mit dem Pariser Geschäftsviertel La Défense auseinandersetzt. Der Film handelt vom titelgebenden Club, der 1979 eröffnet wurde und als einer der ersten in Paris auch Arabern Zugang gewährte. Er hat in den 1980ern seine Blüte erlebt, ist inzwischen aber längst wieder geschlossen. Was den 1991 geborenen Noujaïm daran fasziniert, ist die Vorstellung von Menschen, die unter Tonnen von Beton tanzen.

Im Zentrum seines Films steht Azedine. Er erzählt aus dem Leben von Menschen, die wie er in jungen Jahren im Club verkehrten, für deren von Migration, Drogenmissbrauch und ab Mitte der 1980er-Jahre auch von Aids geprägten Leben in der offiziellen Geschichtsschreibung Frankreichs gemäss Noujaïm kein Platz vorgesehen ist. «Pacific Club» kommt über weite Strecken nachtdunkel daher. Noujaïm pflegt darin eine erratische Form des Storytellings, in der Inszenierung vermischen sich Dokumentarisches, Fiktion und Animation. Das verleiht «Pacific Club» eine Art “Unwirklichkeit” oder eben den faszinierenden Eindruck der verblassenden Erinnerung an fast schon vergessene Menschen und Ereignisse.

5 von 5 ★

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