Kritik11. Juli 2023

Arte-Kritik: «Haus Kummerveldt»: Rock, Barock und Feminismus

Arte-Kritik: «Haus Kummerveldt»: Rock, Barock und Feminismus
© ABBYLL

Eine junge deutsche Aristokratin fordert ihr Recht auf ein freies Leben und Schreiben inmitten einer zutiefst patriarchalischen Gesellschaft. Die Serie «Haus Kummerveldt» auf Arte ist eine Emanzipationsgeschichte aus dem Zweiten Kaiserreich – und trotzdem verdammt zeitgemäss!

von Théo Metais

Ende des 19. Jahrhunderts lebt die junge Aristokratin Luise von Kummerveldt (Milena Straube) zurückgezogen hinter den Backsteinmauern des Familienanwesens. Die aufstrebende Schriftstellerin arbeitet mit dem Segen ihres Vaters, Baron Kummerveldt, an einem Roman – doch plötzlich stirbt er. Von nun an stehen das kleine westfälische Anwesen und seine Bediensteten unter dem Joch des herrschsüchtigen Ältesten, Veit (Marcel Becker-Neu). Als er seiner jüngeren Schwester befiehlt, zu heiraten, springt sie lieber aus dem Fenster und setzt sich ihre Emanzipation als oberstes Ziel. Sie ist bereit, alles zu tun, um zu schreiben und veröffentlicht zu werden, obwohl Veit sie aufhalten will – selbst auf die Gefahr hin, ihren Namen zu vermännlichen und ihr Leben in Gefahr zu bringen.

Die sechs kurzen Episoden (jeweils ca. 15 Minuten) der Serie «Haus Kummerveldt», die in den malerischen Landschaften Nordrhein-Westfalens gedreht wurden und bei denen der deutsche Filmemacher und Produzent Mark Lorei Regie führte, entführen uns in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, mitten ins Herz des deutschen Wilhelminismus. Eine Zeit unter der Herrschaft von Wilhelm II, dem letzten deutschen Kaiser, die von Prunk, Pickelhauben, politischem Imperialismus, Tradition und sozialem Konservatismus geprägt war. Kurzum, ein eng geschnürtes Korsett, das hier als Basis für diese eklektische, laute und feministische Miniserie dient.

Milena Straube und Marcel Becker-Neu in «Haus Kummerveldt» © ABBYLL

Luises Widersacher: ihr missbräuchlicher Bruder, Veit (Marcel Becker-Neu), ein wölfischer Jüngling direkt von der Militärschule, der nach dem Tod des Vaters die Führung des Rudels übernimmt. Als Metapher für die deutsche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts werden im Mikrokosmos ihres bürgerlichen Anwesens Dogma und Tradition zu Müttern der Tugend. Wehe dem, der sich amüsiert, Strenge ist angesagt! Nichts ist wichtiger als die Verneigung vor der Grösse des Kaiserreichs. Ein Umfeld, in dem die Elite die Anwesenheit einer Ehefrau mit der eines Haustieres vergleicht. Als ihr Bruder ihr den Zugang zum Arbeitszimmer verweigert, in dem sie friedlich an ihrem Roman schrieb, wirkt die junge Frau wie eine Ausgestossene, die zum Schreiben auf Springbrunnen klettert und durch die Wälder wandert.

Sie ist zu allem bereit, um ihr Recht auf ein freies Leben zu verteidigen und endlich den Schlüssel zum Arbeitszimmer zu ergattern, damit sie schreiben kann. Die Erlösung, wäre sie denn möglich, könnte nur über die sinnlosen und verhängnisvollen Wettkämpfe erlangt werden, die sie und ihr Bruder sich gegenseitig auferlegen. Ein grausamer Brauch aus ihrer Kindheit, den sie nutzen, um ein ständiges Dominanzverhältnis aufrechtzuerhalten. Es sind Duelle, in denen Gnade eine Schwäche ist und aus denen, wenn sie überleben, nur Sieger und Besiegte hervorgehen. Luise will ihr Korsett vor dem Gesicht des Bruders und damit des Vaterlandes sprengen.

Milena Straube in «Haus Kummerveldt» © ABBYLL

«Haus Kummerveldt» wurde von Goldstoff Filme unter der Schirmherrschaft von Arte und ZDF produziert und orientiert sich an den Werken der amerikanischen Schriftstellerin Louisa May Alcott und an Sofia Copollas vibrierendem «Marie Antoinette». Diese historische Fiktion nach dem Drehbuch von Cecilia Joyce Röski hat den einzigartigen Charme von Erstlingswerken: ein bisschen zerstreut, aber unheimlich leidenschaftlich. Begleitet von den anachronistischen Gitarren der Rockband Gurr, die symptomatisch für eine brodelnde deutsche Szene stehen, lehnt «Haus Kummerveldt» die Heroisierung seiner Protagonistin ab. Es handelt sich in erster Linie um eine Frau, die ihre Existenz behauptet.

So brutal diese Emanzipation auch sein mag, die geniale visuelle Erzählweise verwandelt Luises implosive Geschichte in eine schrille Pop-Erzählung. Auch wenn die Moral grausam und erdrückend ist, gibt es einen Hoffnungsschimmer in den Stillleben, die als Timelapse zu Beginn jeder Episode vor sich hin schimmeln: vielleicht liegt in der Melodie dieser Fliegen, die um die Kadaver von Äpfeln schwirren, der Anfang einer Orchestrierung, um Imperien zu Fall zu bringen.

4 von 5 ★

«Haus Kummerveldt» ist seit dem 06. Juli auf arte.tv zu sehen.

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