Die Schlafkrankheit Frankreich, Deutschland, Niederlande 2011 – 92min.

Filmkritik

Emotionaler Dschungel

Cornelis Hähnel
Filmkritik: Cornelis Hähnel

Die Filme der "Berliner Schule" zeichnen sich meist durch einen strengen stilistischen Formalismus und einer reduzierten, aber in sich dichten Narration aus. Und meist spielen sie an seltsamen Zwischenorten, irgendwo am Rande des Lebens. Für Schlafkrankheit hat Regisseur Ulrich Köhler diese Ästhetik nach Afrika geholt.

Ebbo lebt mit seiner Frau Vera seit ein paar Jahren in Kamerun. Er ist Arzt und realisiert dort ein medizinisches Hilfsprogramm gegen die Schlafkrankheit, einst ein großes Problem in den Tropen Afrikas. Doch Vera vermisst ihr Leben in Deutschland und vor allem die 14-jährige Tochter Helen, die in der alten Heimat in einem Internat lebt. So beschließen beide, zurück nach Deutschland zu gehen, zumal das Projekt scheinbar vollbracht ist. Doch Ebbo fürchtet sich jeden Tag mehr vor der Rückkehr nach Europa.

Die Suche nach dem "richtigen" Leben, der Ausbruch aus den starren Konventionen des Alltags war schon immer ein grundlegendes Thema in Köhlers Filmen; immer wieder sind seine Figuren getrieben von der Sehnsucht nach etwas Anderem. Bei Schlafkrankheit steht dieses Thema unter veränderten Vorzeichen. Ebbo ist bereits am Ort seiner Träume, in Afrika ist er von Bedeutung und kann Dinge verändern. Die Vorstellung, wieder in die hessische Kleinstadt zu ziehen, ängstigt ihn. Er will nicht zurück, aber er weiß auch, dass er in Afrika immer fremd bleiben wird. Das unlösbare Dilemma der eigenen Zugehörigkeit wird Ebbos Schicksal. Doch Köhler zeigt nicht minutiös, wie sein Protagonist daran zerbricht, sondern vollführt einen dramaturgischen Kniff: Er führt in der Hälfte des Films eine neue Hauptfigur ein. Alex, ebenfalls junger Arzt, kommt drei Jahre später nach Kamerun, um eine Evaluation über das Schlafkrankheit-Projekt zu machen.

Die Entscheidung der Zweiteilung des Films ist ebenso geschickt wie problematisch. Durch die Augen von Alex erscheint alles undurchsichtiger, mysteriöser, verschwiegener. Und auch Ebbo, der in der Mitte des Films lange Zeit nicht auftaucht, ist völlig verändert, fremd geworden. Durch den Wechsel der Identifikationsfigur gerät der Zuschauer ins Straucheln, muss sich wieder neu zurechtfinden. Dadurch distanziert man sich einerseits wieder von der Erzählung, doch zugleich wird man von der undurchsichtigen Atmosphäre gepackt. Köhler schafft in der zweiten Hälfte Stimmungen, keine Psychologisierungen. Gerade durch die Auslassung relevanter Geschehnisse entsteht eine seltsame Dramaturgie, die bedrohlich anschwillt. Und wenn bei der finalen Jagd der Dschungel durch das deutliche Sounddesigns domestiziert wird, schafft Köhler ebensoviel Distanz wie Reflexion. Und somit gleicht der Film der inneren Zerrissenheit seiner Protagonisten.

18.02.2024

4

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Kommentare

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reinhard49

vor 11 Jahren

sehr bewegend.


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