Abendland Österreich 2011 – 103min.

Filmkritik

Europa bei Nacht

Walter Gasperi
Filmkritik: Walter Gasperi

Nikolaus Geyrhalter blickt in seinem Essayfilm in 20 Momentaufnahmen auf ein Europa bei Nacht. Von der Abschottung an den Grenzen bis zum Oktoberfest und von Geburt bis zu Tod spannt sich der Bogen der kommentarlosen Plansequenzen, die die Frage aufwerfen, was Europa heute zusammenhält.

Doppeldeutig ist der Titel. Einerseits spielt er auf die historische Idee von Europa als einem Bollwerk der angeblich höheren Kultur und christlichen Religion gegen die vermeintlich barbarischen Horden aus dem Osten wie die Tartaren oder die Osmanen an. Anderseits meint der Titel aber auch ganz konkret das Leben im heutigen Europa nicht nur am Abend, sondern mehr noch bei Nacht.

An über 70 Orten hat Geyrhalter gedreht. In den für ihn typischen langen, meist statischen und sorgfältig kadrierten Plansequenzen spannt der österreichische Dokumentarfilmer den Bogen von der Überwachung der Außengrenzen bis zu einer Station für Frühgeburten, von Disco-Tempeln bis zur Räumung eines Lagers von Roma, von der Papstrede bis zum bierseligen Oktoberfest und vom Bau des Eurofighters als Inbegriff des Verteidigungswillen des Kontinents bis zur Liebesarbeit in einem Erotikzentrum.

Geyrhalter verzichtet auf jeden Kommentar und Interviews. Er beschränkt sich darauf zu zeigen und regt den Zuschauer nicht zuletzt durch die überraschende und vielfach auch kontrastierende Abfolge von Szenen zum Nachdenken an. Immer wieder muss man entweder das zuvor Gesehene angesichts einer neuen Szene überdenken und vielfach bekommt die vorige Szene durch die folgende einen neuen Sinn.

Geyrhalters Blick ist bei diesem assoziativen Bilderfluss gewohnt nüchtern und kühl. Er vertraut ganz auf seine großartigen ungemein tiefenscharfen und klaren Nachtaufnahmen. Dieser Blick entspricht freilich auch kongenial der kalten und emotionslosen Stimmung Europas.

Trotz der abrupten Abfolge von Disparatem zerfällt Abendland aber nicht in Einzelteile, sondern vermittelt gerade dadurch einen Eindruck von der Vielschichtigkeit Europas. Auf den Punkt gebracht wird das in der Schlussszene von einer Technoparty: Während aus den Boxen "A complex situation" dröhnt, holt die Kamera zu einer grossen Fahrt durch die Menschenmassen aus, die tanzend, aber im Grunde doch orientierungslos blickend, sich ganz den wummernden Rhythmen hingeben: Man ist zwar in der Gruppe, aber im Grunde feiert jeder für sich und steht so isoliert da, wie die disparaten Teile Europas oder des Films, der den Eindruck einer harmonischen Einheit brillant demontiert, selbst aber zu einer grossartig geschlossenen Form findet.

02.02.2015

4

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