Earth Kanada, Indien, Grossbritannien, USA 1998 – 110min.

Filmkritik

Das Individuum und die Weltgeschichte

Filmkritik: Rafael Scholl

Die Schlacht von Trafalgar interessierte die traditionelle Geschichtsschreibung vor allem wegen Admiral Nelson und seinen Kriegsstrategien und wegen ihrer weltgeschichtlichen Folgen. Kaum Beachtung erhielt hingegen der kleine Mann hinter dem fünfzehnten Kanonenrohr auf Nelsons Flaggschiff, der zur dritten Stunde unglücklicherweise erschossen wurde. "Earth" erzählt uns Historisches aus der Perspektive der kleinen Leute. Allerdings, wie es der Titel bereits nahelegt, die Seefahrt hat wenig damit zu tun. Das Thema ist die Teilung Indiens im Jahre 1947 nach dem Rückzug der Briten aus der ehemaligen Kolonie.

Die Regisseurin Deepa Mehta ist indischer Herkunft, wohnhaft in Kanada. "Earth" ist der zweite Film in ihrer Trilogie der Grundelemente "Feuer" ("Fire"), "Erde" ("Earth") und "Wasser" ("Water"). Erzählt wird aus der Sicht der achtjährigen Lenny, die 1947 die Teilung Indiens erlebt: Als die britische Kolonialverwaltung abzieht, beginnen bittere Kämpfe zwischen den drei Hauptreligionen. Hindus und Sikhs attackieren Muslime, Muslime bekämpfen Hindus und Sikhs: Drei Völker, die bis dahin in relativem Frieden miteinander und verbunden im Unabhängigkeitskampf gegen die Briten, werden sich plötzlich ihres unterschiedlichen Glaubens gewahr und werden zu Todfeinden.

Alle wollen ein möglichst grosses Stück vom Kuchen, und so beherrschen Krawalle und Kleinkriege bald das Land, das in der Folge in ein muslimisches Pakistan und ein Indien der Hindus und Sikhs gespalten wird. Der Preis: Über eine Million toter Menschen, erschlagen, erschossen, vergewaltigt im Rassenhass. Die Narben jener Zeit sind noch heute in der Feindschaft der beiden Staaten zu sichtbar -- zwei Atommächte am Rande eines Krieges.

Lenny beobachtet den Zerfall dieser Gesellschaft aus der Nähe: Ihr wohlhabender Vater gehört zwar zu einer neutralen Minderheit, doch seine Bediensteten setzen sich aus allen drei Hauptreligionen zusammen. Wir lernen die Belegschaft und eine Reihe anderer Inder kennen. Jede der Figuren erhält im Film eine Doppelfunktion: Alle sind einerseits selbständige Individuen, andererseits aber auch Stellvertreter ihrer jeweiligen Glaubensgemeinschaft. Die Geschichte zeigt, wie aus Durchschnittsmenschen unversehens ein hasserfüllter Mob werden kann.

Dies ist ein guter Film, der sein Medium zu nutzen versteht. Wirkungsvoll und ansprechend sind der Bildaufbau, die Farbwahl, die rhythmische Musik und der Schnitt. "Earth" will wirklich mehr sein als nur ein paar tausend Meter Plastik. Der Hang zum kunstvollen Bild bedeutet, dass selbst die Gewalt in sorgsam gewählten, "präsentablen" Bildern gezeigt wird. Aber es ist keine verherrlichende, sondern bloss eine symbolisierende Gewaltdarstellung, die nie vom Kern der Geschichte ablenkt. Dieser Umgang mit Gewalt unterscheidet
Earth von dem schonungslos offenen Schindler's List, doch im Geiste sind die Filme verwandt: Sie rufen uns in Erinnerung, dass echte Menschen hinter den Textwüsten unserer Geschichtsbücher stehen.

Die Geschichte fusst auf dem englischsprachigen Roman "Cracking India", verfasst von der in Pakistan geborenen Bapsi Sidhwa, heute eine US-Bürgerin. Es liegt eine gewisse Ironie in der Tatsache, dass eine Autorin aus Pakistan und eine indische Filmemacherin dieses Projekt gemeinsam ermöglicht haben, indem sie ihre verfeindeten Heimatländer verliessen.

Der kleine Bruder der
Phantom Menace?

Wenige Namen kämen an dieser Stelle so unerwartet wie George Lucas. Doch "die Macht" ist tatsächlich stark in dieser relativ kleinen indischen Produktion: Deepa Mehta führte Regie bei zwei Episoden von Lucas' attraktiver, aber erfolgloser TV-Serie
The Young Indiana Jones Chronicles und lernte dabei ihre Produzentin Anne Masson sowie den Kameramann Giles Nuttgens kennen, der auch für die Second Unit von Star Wars: Episode I - The Phantom Menace zuständig war. Um George Lucas kommt man dieser Tage offenbar nicht herum.

Spass beiseite: Bevor ich
Earth sah, kannte ich weder den ersten Teil von Deepa Mehtas Trilogie noch hätte ich mit einem indischen Film namens Water*, dem letzten Teil der Trilogie, etwas anzufangen gewusst. Nun möchte ich sie beide sehen.

17.03.2020

3

Dein Film-Rating

Kommentare

Sie müssen sich zuerst einloggen um Kommentare zu verfassen.

Login & Registrierung

Mehr Filmkritiken

The Fall Guy

Back to Black

Kung Fu Panda 4

Challengers - Rivalen