Un monde Belgien 2021 – 72min.

Filmkritik

Der erste Schultag

Filmkritik: Fanny Agostino

In ihrem ersten Film beschäftigt sich die Belgierin Laura Wendel mit dem heiklen Thema «Mobbing» in der Schule. Wo man eine Umgebung mit Jugendlichen erwarten würde, spielt die Geschichte hinter verschlossenen Türen in einer Grundschule. Das aus Kindersicht gedrehte Drama, das sich an das Sozialkino der Brüder Dardennes anlehnt, thematisiert gleichzeitig den Zusammenstoss, der durch die Entdeckung des Gemeinschaftslebens und die unerbittlichen Gesetze der Schule verursacht wird.

Es ist bekannt, dass Fälle von Mobbing in der Schule ein echtes gesellschaftliches Problem darstellen. Die sozialen Netzwerke haben dieses Phänomen vervielfacht, welches erst nach dem Bekanntwerden von Tragödien in den Medien als echtes Anliegen betrachtet wird. In Frankreich geschah dies im Fall von Marion Fraisse. Ihre Geschichte war Gegenstand der Verfilmung «Marion, 13 ans pour toujours» mit Julie Gayet, die die Rolle der Mutter spielte. In «Un monde» löst sich Laura Wendel von der Erwachsenenperspektive und nimmt die Realität von Nora an. Die Kamera bewegt sich systematisch um die kleine Schülerin herum. So findet sie sich in jeder Einstellung wieder.

Die Präsenz der Erwachsenen beschränkt sich daher auf abgeschnittene Silhouetten, ausser wenn eine Intervention stattfinden soll. Diese Nahaufnahmen machen es uns unmöglich, uns im Raum zu verorten. Der Schulhof, die Flure und die Klassenzimmer sind nur minimale Orientierungspunkte, die uns keinen Überblick über die gesamte Umgebung geben. Dadurch entsteht ein Schwindelgefühl, das Noras Verlorenheit in dieser neuen Welt zeigt. Dieses Verfahren erinnert an das von László Nemes in «Der Sohn des Saulus» (2015), in dem er den Weg eines Sonderkommandos in Auschwitz verfolgte. Durch ein Individuum wird die Gewalt des Alltags realistisch.

Der Erfolg dieses Spielfilms liegt auch in seiner Fähigkeit, sich von der Thematik des Mobbings zu lösen. Zwar ist dies der rote Faden, doch die Brutalität der Schulwelt und die damit verbundenen sozialen Codes bringen die Protagonistin in Situationen, die den Zuschauer an die Kehle gehen lassen. Neben den Eifersüchteleien unter Freundinnen, dem Mittagessen in der Mensa und allen Ereignissen auf dem Schulhof bietet Wendel mehrere Sequenzen, die im Schwimmbad spielen. Ein Ort, den sie bereits für ihren Kurzfilm «Les corps étrangers» (2014) gefilmt hatte, in dem man die Rehabilitation eines Mannes verfolgen konnte. Die Kinder warten, bis sie dran sind, um in das Schwimmbecken zu springen. Die zusammengekauerten Körper drücken ihre ganze Scham aus. Die Badeanzüge sind nass und der ohrenbetäubende Lärm der Schreie hallt grausam wider. Nora macht einen beängstigenden Schritt nach vorne, sie ist die nächste. Sie zögert, nimmt schliesslich die Hand des Bademeisters und springt in die Stille der Tiefe des Schwimmbades.

Laura Wendel verführt das Publikum mit ihrem ersten Film. Ein soziales und engagiertes Kino, in dem unsere Vorurteile und unsere verdrängten Erinnerungen brutal ans Licht gebracht werden.

Übersetzung aus dem Französischen von Fanny Agostino durch Alejandro Manjon.

26.04.2022

4

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