CH.FILM

Petrov's Flu Frankreich, Deutschland, Russische Föderation, Schweiz 2021 – 145min.

Filmkritik

Das Leben ist ein nostalgischer Virus

Sven Papaux
Filmkritik: Sven Papaux

Kirill Serebrennikov, der Autor des majestätischen Letp, war wieder einmal in Cannes, um seine neue Ware zu liefern. Mit der Adaption eines Romans von Alexey Salnikov nimmt uns der russische Regisseur mit auf eine nostalgische Grippe.

Es ist schwierig, sich diesem Film richtig zu nähern oder ihn überhaupt zu beschreiben. Es geht um das Hin und Her vom Leben eines Mannes namens Petrov, ein Comic-Autor, der Alkoholiker ist. Er hat die Grippe und einen schlimmen Husten. Das Fieber lässt ihn von der Realität in die Traumwelt übertreten – oder findet alles in der Realität statt? Alles kreuzt sich und die Erinnerungen entwirren dieses halluzinatorische Fresko.

Eine Stadt ohne Name und Wodka-treuen Russen. «Petrov's Flu» behandelt verschiedenen Geschichten, die wie Matroschkas ineinander greifen, um unseren taumelnden Helden herumzuführen. Wir kommen von seiner Frau, einer Bibliothekarin mit übernatürlichen Kräften, zu Igor (Yuri Kolokolnikov) und landen in dem kreativen und selbstmörderischen Wahnsinn eines Schriftstellers (der unglaubliche Ivan Dorn), der davon überzeugt ist, posthumen Ruhm zu erlangen. Alles wird in einer grossen Kuppel hergestellt, die aus Chimären besteht, mit einem Weihnachtsfest als Ankerpunkt. Erinnerungen an die Kindheit vermischen sich, gefilmt aus der Perspektive der subjektiven Kamera, und bieten zutiefst ergreifende und zärtliche Eindrücke. Eine Vielzahl von Rückblenden in die Vergangenheit, um das Geschehen zu entwirren und die auf der Strecke gebliebenen Figuren wieder aufzunehmen. «Petrov's Flu» kann einen ganz schön einwickeln, wenn man sich auf eine fieberhafte Erzählung einlässt.

Die Handlung ist völlig zersplittert, die Erzählung hat keinen Sinn mehr, aber es bleibt im Film eine Schlagkraft, eine Macht der Emotionen, die nur von einer unaufhörlichen und fast unerträglichen Musik durchbrochen wird. Doch wie die Reise selbst sind es die Halluzinationen der Krankheit, die fortbestehen und den Ton im Film angeben, die Ursache des kreativen Wahnsinns. Für den Filmemacher ist die Zeit eine Illusion, ausser wenn er die zärtlichen Momente mit seiner Mutter wiederfindet. Dieser Film ist wie ein Marathon des Unbewussten. Alles ist flirrend, manchmal virtuos, manchmal anstrengend. Er ist ein Experiment, ein verträumtes und unruhiges Delirium, ein grosser Shaker voller verstohlener Emotionen.

Übersetzung aus dem Französischen von Sven Papaux durch Alejandro Manjon.

17.05.2022

4

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Kommentare

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thomasmarkus

vor einem Jahr

Ein postsowjetischer Fibertraum, man muss mitgehen, sich auf den Film einlassen, und mehr und mehr wird er einem mitnehmen. In der Filmkritik kam der Vergleich mit den Matroschkas – ich würd lieber von Puzzleteilen sprechen. Bei den russischen Ineinanderstreckpuppen gibt es eine Reihenfolge, die grössere schluckt je eine kleinere, es geht auf. Im Film aber kommen manchmal Puzzleteile zusammen, die weit auseinander liegen, die mal weggelegt worden sind, und plötzlich wieder in der Hand genommen werden, weil sie hier jetzt passen...

Postsowjetischer Fiebertraum – beim jetzigen Zuschauen immer (gewollt oder ungewollt) mit bösem Erwachen im Hintergrund. Blutorgie und Überfall auf die Ukraine; theologische Fragen und Anklagen, Bibelzitate aus der Apokalypse, die unmerklich in Predigt übergehen, Häresievorwürfe – und ich seh Patriarch Kyrill in seinen kalten Blautönen als wiederestander Väterchen Frost, Märchennostalgie, die verstört...

Filmisch ein grosser Wurf: Spezielle Kameraueinstellungen, abwechslungsreich, innovativ, aufwändig, gewissermassen fieberglänzend. Sorgfältiger Soundtrack, kunstvoll auf dem Akkordeon: westlicher Klassikmainstream (Vivaldi) virtuos wie russische oder ukrainische Strassenmusikanten in der Fussgängerzone irgendwo...Mehr anzeigen

Zuletzt geändert vor einem Jahr


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