Les amours d'Anaïs Frankreich 2021 – 98min.

Filmkritik

Die Liebe ist im Plural weiblich

Filmkritik: Laurine Chiarini

Sie rennt, sie rennt, Anaïs: Eine junge Pariserin in ihren Dreissigern, schusselig und flatterhaft, ihr Leben ist eine Aneinanderreihung unbeschwerter Abläufe. Ihr Körper, ihre Arbeit, ihre Liebschaften - alles scheint sie mit Leichtigkeit zu durchlaufen. Doch eine Begegnung, die als eine von vielen und banale Liebesgeschichte begann, entwickelt sich zu einem viel tieferen Gefühl, der Neudefinition von Verlangen, dem Verb lieben und der Leidenschaft.

Anaïs ist der Inbegriff einer unbekümmerten modernen jungen Frau, die sich mit ihrem Charme und ihrer Schlagfertigkeit aus den nebulösesten Situationen befreien kann, aber es fehlt ihr auch an Sensibilität und Klarheit. Da sie an ihrer Fähigkeit zu lieben zweifelt und ständig hinterfragt, was Liebe ist, beginnt sie eine Beziehung mit Daniel (Denis Podalydès), einem viel älteren Verleger. Doch schon bald verlagert sich der Fokus ihrer Aufmerksamkeit auf eine andere Person: Daniels Frau Emilie (gespielt von Valeria Bruni Tedeschi), eine Schriftstellerin, die Anaïs schon fasziniert, bevor sie sie überhaupt kennengelernt hat. Zwischen komischen und dramatischen Momenten beginnt eine an Besessenheit grenzende Verfolgungsjagd, die Anaïs mehr bringt, als sie sich je erträumt hätte.

Als strenge und kämpferische Anwältin in «Das Mädchen mit dem Armband», einem 2019 erschienenen Film, den ihr Bruder Stéphane Demoustier gedreht hat, wechselt Anaïs Demoustier hier radikal das Register: Angetrieben von einer nicht enden wollenden Energie scheint sie mit Leichtigkeit in die Haut ihrer Figur zu schlüpfen, die eine manchmal übertriebene Leichtigkeit ausstrahlt. Sie lacht und weint und überzeugt auch in dramatischeren Momenten. So auch, wenn sie sich nach der Ankündigung, dass die Krankheit der Mutter wiederkehren wird, zum Weinen zurückzieht, als ob es keine Option wäre, ein anderes Gesicht als das ewige scharlachrote Lächeln zu zeigen.

Der Regisseurin Charline Bourgeois-Tacquet lag es am Herzen, Drama und Komödie miteinander zu verbinden, doch die Vermischung der Genres ist nicht ohne Risiko: Die Montage ist klar, manchmal grenzt sie an Transparenz, ein Gefühl, das durch die Musik verstärkt wird, deren Ton keinen Zweifel an den Absichten der Szenen lässt, die einander entgegengesetzt sind. Die Komposition einiger Sequenzen, die nur eine einzige Leseebene bieten, lässt einen manchmal etwas hungrig zurück, wo ein etwas tieferes Interpretationsraster die Geschichte hätte erweitern können.

Das Wort «Liebe» ist eines der Wörter der französischen Sprache, das von der männlichen Form im Singular einmal im Plural zur weiblichen Form wechselt. Die Liebe, ein abstrakter Begriff, für den es so viele Definitionen wie verliebte Menschen gibt, steht im Mittelpunkt des Films: Natürlich die körperliche Liebe, aber auch die Anziehung, das hohe Gefühl, das entsteht, wenn zwei (potenziell) verwandte Seelen aufeinandertreffen; und dann gibt es noch die Leidenschaft, das überbordende intellektuelle Interesse, das es einem ermöglicht, voranzukommen und durch das zu existieren, was man - wortwörtlich - liebt.

Es ist kein Zufall, dass sich die Literaturwissenschaftlerin Anaïs unwiderstehlich zu Emilie hingezogen fühlt, einer Schriftstellerin, die sich als Kind in ihre Französischlehrerin «verliebt» hatte, die die lebendige und sinnliche Seite der Sprache so gut verkörpern konnte. Die Begegnung der beiden Seelen findet ihren Höhepunkt am Strand, der ganz von Sinnlichkeit geprägt ist. Der Film ist jedoch nicht nur ein lesbisches Manifest, sondern auch eine schöne Geschichte über das Erwachsenwerden, das Erreichen einer gewissen Reife, die nicht ohne Schmerzen und Enttäuschungen abläuft, und über die Entdeckung und Überwindung des Selbst.

Übersetzung aus dem Französischen von Laurine Chiarini durch Zoë Bayer.

02.05.2022

3

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