CH.FILM

Suot tschêl blau Schweiz 2020 – 70min.

Filmkritik

Die Kinder vom Oberengadin

Irene Genhart
Filmkritik: Irene Genhart

In den 1980er-, 1990er-Jahren, als Zürichs Platzspitz die grösste Drogenszene Europas beherbergte, spielte sich im Oberengadin eine Tragödie ab. Im Film von Ivo Zen wird über Ereignisse geredet, über die man bis dato lieber schwieg.

Darüber reden, bekundete man dem Filmemacher in einem Brief, möchte man nicht. Das sei, auch über dreissig Jahre danach, noch zu früh. Die Wunden seien noch zu schmerzhaft. Auch sei es damals zu Schuldzuweisungen gekommen.

Ivo Zen indes – er setzt sich bereits im 2016 entstandenen „Zaunkönig – Tagebuch einer Freundschaft“ mit Drogensucht auseinander – hat die Leute dann doch dazu gebracht, über das zu reden, wovon Grabsteine schweigend zeugen: Dass man im Oberengadin in den 1980er-/1990er-Jahren unverhältnismässig viele junge Menschen zu Grabe trug.

Vorausgegangen war eine Zeit starker gesellschaftlicher Veränderungen. Der Tourismus hatte zugelegt, man verzeichnete viele Neuzuzüge. Nachdem 1968 kaum Spuren hinterlassen hatte, strahlten die Zürcher Jugendunruhen der 1980er massiv ins Engadin ab. In Samedan reklamierte eine Gruppe rebellischer Jugendlicher einen Teil des Dorfplatzes für sich.

Zusammen mit Hardrock-Musik, Rebellen-Attitüde und Autonomie-Forderungen fanden auch die Drogen den Weg in die Berge. Die Familien, sofern sie um die Sucht ihrer Kinder überhaupt wussten, schwiegen aus Angst schräg angesehen oder aus der Dorfgemeinschaft ausgeschlossen zu werden. Die Obrigkeit stellte fest und war, wie anderswo, überfordert.

In Zens Film nun erzählen: Eltern, Freunde, Geliebte, Davongekommene. Die meisten stockend, emotional bewegt. Bei einem Gang über den Friedhof, während einer Wanderung ins Gebirge. Zuhause oder bei einem Besuch im Kulturarchiv Oberengadin, wo Zen für seinen Film einen Raum einrichten liess, in dem Angehörige auf einem Nussbaumtisch persönliche Erinnerungsstücke deponieren konnten: Cowboystiefel, Fotos, Briefe, eine Lederjacke, eine Gitarre. Einmal trifft Zen seine Protagonisten im Restaurant Croce Bianca/weissen Kreuz. Vielleicht, sagt die Serviererin, war es ein Fehler, auch damals alle immer bewirtet zu haben.

Eingeflochten in diese persönlichen Erzählungen um Menschen, die im Rausch der Drogen der Welt abhanden kamen, finden sich mit Verweis auf Darstellungen in Kunst und Literatur: Schilderungen der einmaligen Schönheit der Engadiner Bergwelt. Hier, heisst es in „Suot tschêl blau“, sei tagsüber der Himmel blauer als anderswo und leuchten nachts die Sterne näher als im Unterland. Das gilt es auszuhalten. Nicht allen gelingt es.

16.11.2020

4

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Kommentare

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thomasmarkus

vor 2 Jahren

Bedrückend. Ehrlich. Und richtige Länge.


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