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Der Ast, auf dem ich sitze – Ein Steuerparadies in der Schweiz Deutschland, Schweiz 2020 – 102min.

Filmkritik

Der Ast, auf dem ich sitze – Ein Steuerparadies in der Schweiz

Irene Genhart
Filmkritik: Irene Genhart

Die in Köln wohnhafte Schweizer Filmemacherin Luzia Schmid fragt zu Besuch in ihrer Heimat, wie sich das in ihrer Kindheit beschauliche Städtchen Zug zu einer der weltweit wichtigsten Steueroasen mausern konnte.

Wird man mich als Nestbeschmutzerin beschimpfen, fragt die Regisseurin ihre Schwester. Die Schwester, Anwältin von Beruf, wiegelt ab. Wird schon nicht. Ist ja auch alles immer mit rechten Dingen zugegangen in Zug, dieser mit 30‘500 Einwohnern relativ kleinen Stadt in der Zentralschweiz und dem gleichnamigen Kanton.

Doch Zug hat sich, seit Luzia Schmid da aufwuchs, radikal verändert. Hat sich innerhalb der letzten 50 Jahre vom verschlafenen Städtchen, das ein Paradies für Kinder war, wie Familienfotos belegen und die Mutter beteuert, in eine der grössten Steueroasen der Welt verwandelt. Zahllose internationale Firmen sind nach Zug gezogen, schicke Villen aus dem Boden geschossen. Heute finden Einheimische mit Durchschnittseinkommen in Zug kaum mehr eine bezahlbare Bleibe.

Luzia Schmid hat an der Kunsthochschule in Köln studiert und ist in Deutschland geblieben. Ein Teil ihrer Familie, auch einige ihrer Freunde und Bekannte leben nach wie vor in Zug. Schmid besucht sie regelmässig: wenn sie zu Weihnachten mit dem Auto in Zug einfahre und den Lichterzauber sehe, würde sie ihre Kinder jedes Mal aufwecken, heisst es im Film.

Nebst dem Staunen über die sichtbaren Veränderungen, die mit Blick von aussen umso heftiger ins Auge springen und deren Gründen Schmid nachforscht, beschäftigt sie noch etwas anderes. Ein moralisches Dilemma, das umso virulenter wird, als die Filmemacherin im Gespräch mit dem Vater, der Schwester, Freunden, Juristen, Politikern, Firmengründern zu begreifen beginnt, was sie in jungen Jahren wahrnahm, sich damit aber nicht auseinandersetzte: Dass die Schilder der Firmen, von denen immer mehr am familieneigenen Briefkasten, sowie den Kästen der Nachbarn klebten, den rechtlichen Rahmen absteckten für etwas, das sich mit juristischer Cleverness, Fortune und Fleiss erreichen liess, und das nicht nur die Zuger, sondern die Schweizer, hartnäckig verteidigen: einen unverschämten Wohlstand, dessen Entstehung man noch heute nicht treffender beschreiben kann, als Mani Matter in seinem in den 1970ern getexteten Lied „Dene wos guet geid“.

Als „persönlichen Wirtschaftsfilm“ bezeichnet Luzia Schmid „Den Ast, auf dem ich sitze“. Es ist eine im persönlichen Erfahren und im engsten Umfeld einsetzende couragierte Recherche, die aufzeigt, wie Doppelmoral und kollektives Verdrängen funktionieren.

27.10.2020

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