Atlantique Belgien, Frankreich, Senegal 2019 – 104min.

Filmkritik

Teures Brot und billiges Menschenfleisch

Lino Cassinat
Filmkritik: Lino Cassinat

So klischeehaft es auch scheinen mag, eine Preisverleihung ist ohne eine überraschende Auszeichnung eines Nicht-Favoriten, eines "Underdogs", wie die Engländer sagen, nicht von Bedeutung. Das Festival von Cannes überraschte 2019 alle mit der Verleihung des Grand Prix (die prestigeträchtigste Auszeichnung nach der Goldenen Palme) an den unbekannten Atlantique, den ersten facettenreichen und poetischen Film von Mati Diop.

In einem beliebten Vorort von Dakar beschliessen die Arbeiter auf einer Baustelle – seit Monaten ohne Lohn – das Land für eine bessere Zukunft Richtung Meer zu verlassen. Unter ihnen ist Suleiman, der seine Liebe Ada zurücklässt, weil diese einem anderen Mann versprochen ist. Wenige Tage nach der Abreise der jungen Männer zum Meer verwüstet ein Feuer Adas Hochzeitsfeier, und ein mysteriöses Fieber grassiert unter den Mädchen der Nachbarschaft. Issa, ein junger Polizist, beginnt eine Untersuchung – ohne die geringste Ahnung, dass die Geister der Ertrunkenen zurückgekehrt sind. Einige sind gekommen, um Rache auszuüben; Sulemain hingegen ist zurückgekehrt, um sich von Ada zu verabschieden.

Mati Diop ist als Autor ganz deutlich Teil einer kleinen Gruppe, die in der Lage ist, in einem einzigen Werk Geister und übernatürliche Epidemien mit öffentlicher Ignoranz, Durst nach Idealen und politischem Kommentar zusammenzubringen. Atlantique ist eine Falle für diejenigen, die nicht genau hinschauen: Hinter dem vereinfachten "Dritte-Welt-Bild" voller Forderungen – das mit dem Film wahrscheinlich durch reine Bequemlichkeit in Verbindung gebracht wird – verbirgt sich ein facettenreiches Werk, dessen Bilder diverse Gefühle provozieren, die auf dem Papier sehr polarisierend wirken, in Atlantique aber äusserst harmonisch koexistieren.

Eine Meisterleistung, die durch Mati Diops moderne Inszenierung und vor allem durch die erstaunliche Kameraarbeit ermöglicht wird, die sofort an Harry Gruyaert erinnert und an den Windungen einer geheimnisvollen und kryptischen Erzählung festhält, indem der Film zwischen dem Wunderbaren, dem Traumhaften, der Empörung, dem Phantastischen und sogar einem Gefühl der Dystopie oszilliert, was dem Science-Fiction nahekommt.

Ein Gefühl, das mit den surrealen, beinahe extraterrestrischen Bildern des sich im Bau befindlichen Zyklopenturms unterstrichen wird, der dem Film seinen Namen gibt und mit seiner wüstenähnlichen Kulisse einen Kontrast bildet; wie eine vertikale und technologische Absurdität, die sich von der Naturlandschaft abhebt, ihre Bewohner erdrückt, Pest und Drama verursacht – so wie im Film die Einwanderung und der Tod. Eine metallische, materielle Gewalt, der Mati Diop beherzt ein immaterielles Anderswo entgegensetzt, eine spirituell uneinnehmbare, aber verlorene Mystik, die uns zur Wiederentdeckung einlädt.

Jeder, der auch nur einen einzigen Film von Apichatpong Weerasethakul gesehen hat, erkennt seine Mittel in Atlantique wieder, und wird dem Film wahrscheinlich ziemlich schnell den Nachahmer-Stempel aufdrücken. Und es muss gesagt werden: Es ist schwierig, die beiden Filmemacher nicht zu vergleichen und nicht zu bemerken, dass Atlantique ein sehr geringes Gefühl der Frustration hervorruft, nicht zuzugeben, dass man sich den Film ein bisschen weniger theoretisch gewünscht hätte, dass der Film unverblümt eine phantastische Richtung einschlägt. Man muss aber auch sagen: Dieser Vergleich ist nicht konstruktiv, und nur wenige Erstlingswerke bringen ihr Publikum so weit voran.

25.10.2019

4.5

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Kommentare

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caravaggio

vor 4 Jahren

Der Versuch von Kritiker und Verlag diesen Film als avantgardistisches Afrikakino zu verkaufen ist wohlgemeint und vielleicht zutreffend, wenn man/frau seine cineastisches Kriterien auf Null runterschraubt. Doch im Vergleich zum internationalen Erzählkino bleibt hier zu viel gewolltes, aufgesetztes und wenig subtil Überzeugendes zurück. Ein netter Versuch, aber leider nicht mehr!Mehr anzeigen


sonja555

vor 4 Jahren

Ich kann die gute Bewertung leider nicht verstehen. Der Film lässt vieles ungeklärt, selbst mit Interpretationen lassen sich keine Antworten finden. Schade, eine vertane Chance!


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