Rojo Argentinien, Brasilien, Frankreich, Deutschland, Niederlande 2018 – 109min.

Filmkritik

Trau schau wem oder besser niemandem

Irene Genhart
Filmkritik: Irene Genhart

Benjamin Naishtat schildert in seinem Thriller die lähmende Starre, in welcher Argentinien im Vorabend des Militärputschs von 1976 verharrte.

Zuerst sieht man ein Haus, in das verschiedene Personen hineingehen, um nach einigen Minuten mit irgendeinem Möbelstück oder Haushaltsgerät unter dem Arm wieder herauszukommen. Unmittelbar darauf folgt eine Restaurantszene. Man schreibt das Jahr 1975, Ort der Handlung ist eine argentinische Provinzstadt. Es ist Dinner-Zeit. Das Lokal ist bis auf den letzten Tisch besetzt, als ein Fremder dieses betritt und laut seinen Unmut kundtut, weil er keinen Platz findet. Irgendwann überlässt ihm der angesehenen Rechtsanwalt Claudio Mora den Tisch, an dem er auf seinen verspätete Gattin wartet. Doch nun liegt Spannung in der Luft, die sich abrupt in einem Wortgefecht entlädt, in dessen Folge der Rothaarige vor die Tür gesetzt wird; man kennt Ähnliches aus Western.

Doch ein Western ist Rojo – der nach dem Mystery-Thriller History of Fear (2014) und dem düsteren Siedler-Movie El moviemento (2015) dritte Film des Argentiniers Benjamín Naishtat – nur der Spur nach, und als Moras Gattin endlich auftaucht, scheint bisher nichts geschehen zu sein. Man tafelt, verlässt das Lokal zu später Stunde.

Auf dem Heimweg aber begegnet man dem Unbekannten erneut. Diesmal fällt die Begegnung noch etwas heftiger aus, und es fallen Schüsse. Und doch ist, als die Familie Mora am nächsten Tag Besuch empfängt, als ob nichts geschehen wäre. Die Jugendlichen führen artig Konversationen, die Erwachsenen ebenso. Man wirkt auch unter Freunden etwas steif, doch das kann auch an den 1970ern liegen, die in Argentinien weniger flower-powerig waren als in den USA und Europa. Man hält auf sich und an der Gesellschaftsordnung fest. Will unter keinen Umständen auffallen in dieser Zeit, in der manche unverhofft auf Nimmerwiedersehen verschwinden und Häuser plötzlich leer stehen. Und träfe nicht irgendwann Detektiv Sinclair aus der Hauptstadt ein, wäre auch am Schluss des Films vielleicht einfach nichts geschehen.

Rojo ist in der Erzählung eigenwillig elliptisch und elegant inszeniert. Naishtat setzt dabei nicht nur auf parabelhaft starke Bilder, sondern auch auf das in den kleinen Dingen des Alltags liegende Makabre. Und nicht zuletzt auf die grossartigen Pokerfaces, mit denen sich Dario Grandinetti und Alfredo Castro in den Hauptrollen ein subtiles Katz-und-Maus-Spiel liefern. Rojo ist eine stimmungsmässig dichte Schilderung der bangen Starre, in welcher Argentiniens Gesellschaft am Vorabend des Militärputsches von 1976 verharrte.

28.06.2019

4

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Kommentare

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joery

vor 4 Jahren

Viele Handlungsstränge, man wartet den ganzen Film lang vergebens, dass was zusammenkommt.


Yvo Wueest

vor 4 Jahren

«No pasa nada» ... das hörte ich während meiner Zeit in der Entwicklungszusammenarbeit oft. "Nichts passiert", wenn es darum geht, hinzuschauen, Widersprüche aufzudecken, Unrecht anzuzeigen. Im Film "Rojo" halten wir Rückschau auf die dunklen Jahre der argentinischen Diktatur. Ruhig und gemächlich baut die Geschichte den Kolorit der Paranoia am Vorabend der Machtergreifung auf. Die Militärs und Todesschwadronen sind noch nicht im Raum, doch alle Zeichen stehen auf Sturm. Hauptdarsteller Darío Grandinetti, spielt den "sauberen" Kotzbrocken differenziert und perfekt.Mehr anzeigen


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