CH.FILM

Die Gentrifizierung bin ich: Beichte eines Finsterlings Schweiz 2017 – 98min.

Filmkritik

Stapeln ist die Zukunftslösung

Zurich Film Festival
Filmkritik: Zurich Film Festival

Zustande gekommen ist Thomas Haemmerlis schrille Film-Collage – oft in einer Reklame-Ästhetik der späten 1960er-Jahre arrangiert – auf Anregung seiner Produzentin Mirjam von Arx. Mit ihr arbeitete er schon bei seinem letzten Film Sieben Mulden und eine Leiche zusammen, dazwischen liegt eine Pause von zehn Jahren. Dank der familiär bedingten Kameraaffinität ist ein Haufen Bildmaterial zusammengekommen, durch den sich der Zuschauer auf eine kleine Zeitreise macht. Denn schon die Grossmutter (bereits ab den 1930er- Jahren) wie später auch die Mutter filmten gerne und trugen so zusammen mit dem von Haemmerli eigens gefilmtem Material und den aktuellen Aufnahmen von Kameramann Stephan Kuthy zu einem ordentlichen Archiv bei.

Kritik von Judith Schick im Rahmen des Watch and Write am ZFF 2017

Zu seinen Hausbesetzer- und WG-Zeiten sei Haemmerli seinen Mitbewohnern oft richtig auf den Wecker gegangen mit seiner Dauerfilmerei; gerne in Situationen, in denen man lieber unbeobachtet geblieben wäre. Aus heutiger Sicht aber eine klasse Zeitdokumentation wilder Zeiten, in denen sich die linke Szene jede Mühe gab, Zürich zum brennen zu bringen.

Die Selbstkritik, sich vom glühenden Protestler zum Gentrifizierer „gemausert“ zu haben, der gleich mehrere Wohnräume auf der Welt zeitgleich vereinnahmt, wirkt durch das hohe Mass an Ironie und Humor in der Doku wie ein Erkenntniszugewinn, dass man die Überzeugungen seiner Revoluzzerjahren im Nachhinein auch mal korrigieren und sich Denkfehler eingestehen muss – oder sich eben den veränderten Lebensbedingungen zwangsläufig unterwirft.

Als es mit der Journalistenkarriere steil bergauf geht, bringen es die Lebensumstände und das gestiegene Einkommen mit sich, dass Haemmerli vom Hausbesetzer zum Wohnungsbesitzer mutiert. Erst in Zürich, dann ergibt es sich, dass er neben der Mietwohnung in einem Hochhauskoloss in Sao Paolo parallel noch eine recht spartanische Bude in Georgiens Hauptstadt Tiflis erwirbt und renoviert – denn ohne Bad und nur mit uraltem Plumpsklo, das man sich zudem mit einem Haufen Nachbarn teilen müsste, ist dem Weltbürger dann doch zu wenig komfortabel.

Ursprung des Films ist die Volksinitiative der SVP gegen Masseneinwanderung und die Angst vor Verdichtung, gegen die sich der Filmemacher engagiert. Haemmerli zieht die helvetische Furcht, dass Migranten die Eidgenossen verdrängen und der Wohnraum nicht für alle reicht, ins absolut Lächerliche. Neben unterhaltsamen Einblicken in die aufregende Zeit Ende Siebziger-, Anfang Achtzigerjahre, ihre Demos und ihre Feiern, funktioniert der Essayfilm ebenso als architekturhistorischer Abriss und veranschaulicht den Kampf der Modernisierer gegen die Bewahrer.

Beeindruckend ist die „Lichtung“ der Zürcher Altstadt durch an den historischen Gebäuden orientierten grosszügigeren Nachbauten daneben ein Beispiel, wie bei einem Neubau in der zerfallenden Stadt Tiflis mit Abdrücken von Säulen und Ornamenten des abgerissenen Hauses die Geschichte weiter als Negativ im Modernen weiter lebt. Oder ganze Hochhausquartiere in Brasilien, die über eine komplett eigene Infrastruktur mit Bädern und Geschäften verfügen, sodass man mal Zuhause angekommen sich jegliche Wege mit dem Auto sparen kann. Max Frisch, wie immer klug und visionär, kommt auch noch zu Wort, und das sehr amüsant begleitet von schmatzenden Pfeifenrauchgeräuschen.

Obwohl Haemmerli als Protagonist omnipräsent ist und bisweilen zu selbstverliebt daherkommt, gibt es genug Szenen im Film, mit denen sich die Zuschauer – mit welchem sozialen Hintergrund auch immer – identifizieren können. Gelacht wurde zumindest viel im Publikum bei der Weltpremiere am 29. September 2017 beim Zurich Film Festival.

03.04.2024

4

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Kommentare

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martin_ackermann

vor 6 Jahren

Zu Beginn witzig, danach wenig informativ, lang und fast schon selbstverliebt...


sallgoodman

vor 6 Jahren

Der Film zeigt uns, wie man innerhalb weniger Jahre sämtliche Überzeugungen über Bord werfen kann wenn man nur genug Geld hat. Für Architektur-Fans mag der Film was haben. Mich hingegen liess der Film etwas ratlos zurück. Die Verdichtungsträume inspieriert von Städten wie Sao Paolo haben mich nicht überzeugt, ansonsten konnte ich keine Aussage entdecken, die die Verfilmung einer Autobiographie rechtfertigen würden.Mehr anzeigen


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