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Das Leben drehen – Wie mein Vater versuchte, das Glück festzuhalten Schweiz 2015 – 77min.

Filmkritik

Ein Leben durch die Linse

Urs Arnold
Filmkritik: Urs Arnold

Als Kind hasste Eva Vitija es, ständig von ihrem Vater gefilmt zu werden. Nach seinem Tod drehte sie den Spiess um, und richtete die Linse auf ihn.

Joseph «Joschy» Scheideggers Passion gilt der Kamera. Als Kind in einfachen Verhältnissen aufwachsend, ist sie sein ständiger Begleiter. Ende der Vierzigerjahre spielt der Zürcher Jungspund in seinem ersten Film mit, einem abendfüllenden Migros-Werbespot. Es folgen Auftritte in über hundert weiteren Produktionen, unter anderem in Polizist Wäckerli. Bald wird Scheidegger hinter den Kulissen tätig: Er führt bei Hörspielen Regie, inszeniert Filme für das Schweizer Fernsehen. Dabei beweist er Pioniergeist, dreht die ersten TV-Produktionen in Videoformat und an Originalschauplätzen.

Auch privat kann Scheidegger nicht von der Kamera lassen. Sehr zum Missfallen seiner Familie. Vaters obsessives Festhalten des Alltages nervt die Kinder Eva und Kaspar gewaltig. «Zu meinem achtzehnten Geburtstag schenkte mir mein Vater einen Film. Eine Art Best-of meiner Kindheit, in Spielfilmlänge», erinnert sich Eva. Zwei Jahre habe sie danach nicht mehr mit ihm geredet. Das Fass war überlaufen.

Die Ironie der Aussage erschliesst sich einem augenblicklich. Verantwortlich für Das Leben drehen ist nämlich Eva Vitija selbst. Trotz der einstigen Entrüstung fand sie beruflich zum Medium – erst als Drehbuchautorin, mit diesem Dokumentarfilm nun auch als Regisseurin. Einem Film, zu dessen Erschaffung ihr Vater sie stumm bewog. Nach seinem Tod 2012 erbte Eva Vitija sein ausuferndes Archiv, grub sich darin tief hinein – und beschloss, mit der Unterstützung ihrer Mutter und ihres Bruders die Kamera auf ihn zu richten. Dies in einer humorvollen, aber durchwegs kritischen Manier.

Schweizer Dok-Filme wie Karma Shadub, Dem Himmel zu nah und Das Leben drehen stehen in direkter Verwandtschaft: Ihre Macher beweisen ungeheuren Mut, tief in die Privatsphäre ihrer Familien einzudringen und deren unbequeme Wahrheiten der Öffentlichkeit darzulegen. Diese Filme zeugen von schierer Neugier und entsprechendem investigativen Willen, nicht zuletzt aber auch von persönlichen Hoffnungen auf Katharsis.

Das Mosaik, welches Vitija hier mit grosser Sorgfalt zusammenfügt, ist bald schon ein weitaus komplexeres, als man es sich zu Filmbeginn vorstellt. Erneut wird man hier mit der bemerkenswerten Vielschichtigkeit konfrontiert, die der Verbund der Familie besitzt. Und damit, dass diese Gemeinschaft schlussendlich immer auch aus Individuen besteht: ein jedes charakterlich eigen, ein jedes seine Geheimnisse hortend.

Über die behandelte Familiengeschichte hinaus regt Das Leben drehen an, den Sinn des – beharrlichen – Festhaltens eines Momentes zu hinterfragen. In einer Gegenwart, in der dies dank Smartphones beispiellos niederschwellig geworden ist, scheint diese Reflektion nötiger denn je.

23.05.2016

4

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