The Cut Kanada, Frankreich, Deutschland, Italien, Polen, Russische Föderation, Türkei 2014 – 138min.

Filmkritik

Nazareths Erlösung von allem Bösen

Michael Lang
Filmkritik: Michael Lang

Der armenische Schmied Nazareth (Tahar Rahim) lebt idyllisch nahe der syrischen Grenze. 1915, im ersten Weltkrieg, wird er von türkischen Gendarmen zur Zwangsarbeit verschleppt, überlebt ein Massaker, wird am Hals aber schwer verletzt und ist fortan stumm. Jetzt will er in bewegten Zeiten seine Frau und die Zwillingstöchter wiederfinden. So beginnt die hochdramatische Passionsgeschichte Nazareths, ein episches Melodrama des Deutschtürken Fatih Akin. Es spielt unter anderem im Libanon, im kubanischen Havanna und endet 1923 in den Weiten der USA.

The Cut ist das bisher ambitionierteste Werk Akins und der letzte Teil seiner Trilogie "Liebe, Tod und Teufel". Werke wie Gegen die Wand und Auf der anderen Seite waren unkonventionelle, kleinräumige aber wuchtige Beziehungsdramen über Aussenseiter aus der mitteleuropäischen Emigrantenszene auf Identitätssuche. Jetzt wagt sich Akin fatalerweise an den Abenteuer-Historienfilm und sofort ist man an den Grossmeister des Genres, David Lean, erinnert.

Doch Akin ist dem Briten in nichts gewachsen, weil es nicht nur an der plausiblen Balance zwischen Geschichtsaufbereitung und Fiktion mangelt. Zwar hat Akin jahrelang etwa die Hintergründe des Genozids am armenischen Volk durch die Türken (eine Tragödie, der 2015 zum hundertsten Mal gedacht wird) recherchiert. Leider aber erfährt man dazu wenig. Obwohl der armenisch-stämmige Mardik Martin, ein Mitarbeiter von Martin Scorsese, am Skript mitgewirkt hat.

Nazareths Suche nach seinen Töchtern wirkt also im Ganzen nicht wie durch die Wirrnisse der Zeit bedingt, sondern wie von ihnen entfremdet. Das aber passt nicht zu einem Filmemacher, der in seinen besseren Arbeiten genau diese Klammer zu setzen wusste. Dennoch, es gibt in The Cut Szenen von Reiz. Die Schönste dort, wo der gebrochene Held 1921 im syrischen Aleppo in einem Hinterhof der Vorführung von Chaplins Meisterwerk The Kid beiwohnt. Und so wie die Leidensgenossen um ihn herum erstmals von der Magie des Kinos verzaubert wird.

Ansonsten aber mutet Akin seinem Protagonisten (und dem Publikum) in Überlänge von allem zu viel zu. Immer enttäuschend dort, wo man es um des Effektes willen mit dem verbildlichten Horror übertreibt, was die Psychologie des Bösen verkitscht. Und vor allem die Figur des moralisch ambivalent angelegten Nazareth blasser erscheinen lässt, als sie es verdient.

Trotzdem ist man gespannt, wie das Duell mit dem Teuflischen im Western-Ambiente in den USA abläuft, wo Nazareth endlich findet, was ihm vom eigenen Blut geblieben ist; ein trauriges, zugleich versöhnliches, erlösendes Zusammentreffen, in dem sich auch das Talent des träfen Menschenbeobachters Fatih Akin doch noch entfaltet.

16.04.2024

3

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Kommentare

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8martin

vor 6 Jahren

Es ist vornehmlich ein Männerfilm, der sich in der Weiblichkeit am Ende erfüllt. Regisseur Fatih Akin erzählt uns eine Geschichte. Jeder weiß, dass die Türkei den Völkermord an den Armeniern leugnet und die Bejahung dieses Genozids sogar bestraft.
Das Drehbuch, dass Akin zusammen mit dem Armenier Mardik Martin geschrieben hat, vernachlässigt die Gräueltaten keineswegs, strapaziert sie aber auch nicht übermäßig. Es ist mit Recht pars pro toto, was man hier sieht und das genügt. So nimmt er eine etwas distanzierte Haltung ein, ohne die Emotionen zu vernachlässigen. Er ist kein nationalistischer Scharfmacher, der sich auf die eine oder auf die andere Seite schlägt, er betont vielmehr den rein singulären menschlichen Aspekt der Tragödie und gewinnt so eine gewisse Allgemeingültigkeit.
Es ist ein Roadmovie herausgekommen. Ein Vater, Nazaret (Tahar Rahim) wird von den Türken gewaltsam von seiner Familie getrennt und reist um die halbe Welt bis nach Amerika, um seine zwei Töchter zu finden.
Bei physischem Zusammenbruch erscheinen ihm die Geister sein Frau bzw. seiner Töchter und mobilisieren seine letzten Kräfte. So kommt auch noch eine fast lyrische Facette hinzu. Nazaret wurschtelt sich von einem Beinahe-Hungertod zum nächsten bis er endlich Tochter Lucinée (Dina Fakhoury), die wegen ihres hinkenden Ganges keiner heiraten wollte, in die Arme nehmen kann.
Schön traurig, aber nicht melodramatisch. Tragisch und voller Leid. Nazaret ist gezeichnet, (seine Stimme ist weg), aber nicht gebrochen. So kann man an ein brisantes Thema herangehen. Chapeau!Mehr anzeigen


Arthur Alexander Alex

vor 9 Jahren

Ich möchte mich bei Herr Fatih Akin so sehr bedanken, dass er die traurige Geschichte des Völkermordes an den Armeniern auf die Leinwand gebracht hat. Alle Elemente des Armenier Seins und die damit verbundene Tragik sind in "The Cut" erwähnt worden. Ein trauriger, tragischer Kapitel der Menschheitsgeschichte. Der Völkermord wird seit 99 Jahren von der heutigen türkischen Regierung noch immer nicht anerkannt.
Danke Herr Akin! Sie sind ein Meister!Mehr anzeigen


willhart

vor 9 Jahren

Absolut sehenswert. Berührend, fesselnd. Wer sagt, der Völkermord sei nicht thematisiert worden, den verstehe ich nicht. Die Zwangsarbeit, die eine Metzelszene, das Flüchtlingslager - genügt das nicht. Man erinnere sich an Schindler's List. Weniger ist mehr. Der Film ist zwar lang, aber GUTMehr anzeigen


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