CH.FILM

Electroboy Deutschland, Indien, Schweiz, USA 2014 – 113min.

Filmkritik

Ein Leben unter Strom

Urs Arnold
Filmkritik: Urs Arnold

Regisseur Marcel Gisler (Rosie) hat erstmals eine Doku gedreht. Einem Spielfilm gleich strebte er die grösstmögliche Kontrolle an – doch dann funkte das Leben dazwischen. Den Film hat es nur bereichert.

Es hat seinen Grund, wieso der Florian Burkhardt in einem kargen Raum dasitzt, und warum gerade Marcel Gisler ihm zuhört, wie er von seinem Leben erzählt. Der Grund ist Burkhardts komplexe Persönlichkeit, die den arrivierten Schweizer Filmemacher dermassen einnahm, dass sie ihn zu seiner Dokumentar-Premiere bewog. Fürwahr verfügt der im Film 40-jährige Burkhardt über einen immens kreativen Geist, der zugleich aber auch ein erkrankter ist.

Die geschwächte Psyche bleibt eingangs von Electroboy hinter der Auffächerung von biografischen Ereignissen verborgen, die nur schon in ihrer Fülle behauptet anmuten. In einer christlich-bürgerlichen Familie aufgewachsen, geht Burkhardt Anfang 20 schnurstracks nach Hollywood. Er fühlt sich als Star berufen, zu dem er alsbald wird, jedoch als Model. Doch selbst diese Laufstegkarriere bleibt lediglich eine Zwischenstation in einem hochbeschleunigten Leben. Burkhardt wandelt sich im Verlauf der neunziger Jahre zum Internetvisionär, später zum erfolgreichen Partyveranstalter unter dem Pseudonym "electroboy".

Und da war noch viel, viel mehr. Doch aus Verknappungsgründen hat Gisler einiges aus der Biografie des Mannes vorbehalten. Dafür adressiert er ausführlich Burkhardts harten Aufschlag: Ausgebrannt, soziophob und auf Medikamente angewiesen zog sich das Multitalent mit 32 Jahren aus der Öffentlichkeit zurück, um fortan als Invalidenrentenbezüger ein unauffälliges Dasein zu fristen.

Hoher Aufstieg und tiefer Fall – die archetypische Topografie eines Künstlerlebens ist auch in Electroboy deutlich ausmachbar. Durch die Schilderung des Betroffenen selbst entfaltet sich die Biografie äusserst intensiv. Wobei Burkhardt zuweilen von einem anderen Menschen zu berichten scheint, so sehr sind ihm Abschnitte seiner Vergangenheit fremd geworden. Dank langen Vorgesprächen mit Marcel Gisler fasste Burkhardt das Vertrauen, seine Biografie schonungslos aufzufächern. Eine atemlose Biografie, die der kritische Gisler zwei Jahre lang gründlich auf ihre Wahrheitstreue abklopfte, und die im Film durch Aussagen von Weggefährten Stützpfeiler erhält.

In der Manier des Spielfilmregisseurs hatte Gisler die Struktur seiner Doku gewissenhaft zurechtgeformt. Dann aber fand er unter den Schichten von abenteuerlichen Stories ein fundamentales Kapitel in Burkhardts Familiengeschichte, dessen Nachverfolgung im Film in die Gegenwart führt. Es ist ein letzter ansatzloser Hakenschlag in dieser dichten, mitreissenden Doku, die in jäher Menschlichkeit ausklingt.

15.12.2014

4

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Kommentare

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meinrad.zuend

vor 9 Jahren

Sehr beeindruckender Film!
Kaum zu glauben, dass soetwas passieren kann - dass das die gleiche Person ist, Electroboy und Florian Burkhardt.
Bis zur Pause; nur staunen - nachher wird die Sache etwas klarer, persönlicher - aber auch immer tragischer.


willhart

vor 9 Jahren

Toller Film über eine tolle Person, die der Welt abhanden gekommen ist.
Wenn man mit der Zeit die Familiengeschichte erfährt, beginnt man zu erahnen, der Auslöser ist und wünscht sich so sehr, dass er den Ausbruch aus diesem Gefängnis schafft und auf Medis verzichten kann. Der Film strahlt eine Kälte aus - die FamilieMehr anzeigen


ursmüngli

vor 9 Jahren

Must see!


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