Der Narr Russische Föderation 2014 – 116min.

Filmkritik

Russische Kassandra

Filmkritik: Eduard Ulrich

Idealismus im Film kommt immer gut an, denn er kostet uns nichts. So gesehen, ist es logisch, dass Juri Bykows Hauptdarsteller in Locarno den Silbernen Leoparden erhielt, denn sein Held ist Idealist in Reinkultur. Er kommt zum Schluss, dass ein Wohnblock einstürzen wird, und versucht, die Bewohner mit Hilfe der korrupten Stadtverwaltung zu retten. Bykows Parabel auf das heutige Russland ist allerdings etwas einfach gestrickt, macht aber mit der Besetzung Boden gut. Dafür gab's in Locarno noch den Preis der Ökumenischen Jury.

Russland ist riesig und aus westlicher Sicht zu groß, um es zu verstehen. Bykows Parabel steht also nur für einen Teil Russlands und sie bedient viele westliche Klischees vom östlichen Nachbarn, die vermutlich nicht alle falsch sind. Der ca. 30-jährige Sanitär Dima im Dienste der Verwaltung einer nicht näher konkretisierten Stadt kommt zur Überzeugung, dass ein Wohnblock bald einstürzen werde.

Er setzt alle Hebel in Bewegung, um das vermeintlich drohende Unglück abzuwenden. Das ist allerdings nicht so einfach, denn ihm fehlt noch das bautechnische Rüstzeug, um seine Vermutung zu beweisen, und die Verantwortlichen in Stadtverwaltung, Polizei und Feuerwehr sind nächtens verständlicherweise nicht von der Aussicht auf einen Notfalleinsatz begeistert. Dima kämpft auf der einen Seite wie Kassandra gegen Ignoranz, Arroganz und Impertinenz, auf der anderen Seite strapazieren seine Eltern und seine Frau seine Nerven, weil sie erkennen, in welche Gefahr er sich begibt.

Regisseur Juri Bykow, der auch das Drehbuch verfasste und sogar die Musik besorgte, lässt keinen Zweifel daran, dass seinem noch jungen Protagonisten diese selbstgewählte Aufgabe über den Kopf wachsen wird. Die Besetzung ist glänzend im Sinne, dass man nicht nur dem in Locarno mit dem Silbernen Leoparden ausgezeichneten Hauptdarsteller sondern auch den wichtigen Nebendarstellern ihre Rollen gern abkauft.

Bykow hat Charakterköpfe besetzt, die das Spektrum der russischen Physiognomie ausloten und das Wesen ihrer Figuren deklarieren. Womit wir wieder bei den Klischees wären, die im Westen über den Ostern herumgeistern. Da fragt man sich unweigerlich, für wen er diesen Film geschaffen hat und wie repräsentativ er ist. Im Westen stutzt man jedenfalls, wenn eine Geschichte dermaßen durchsichtig und auf Brechtsche Art moralisierend konstruiert ist. Und wer des Russischen nicht mächtig ist, stutzt ebenfalls mächtig, denn soviele vergessene Wörter, Grammatik- und Wortwahlfehler wie in der Untertitelung bekommt man selten vorgesetzt.

19.02.2024

3

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Kommentare

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mimuk1

vor 9 Jahren

Wer den Film als "einfach gestrickt" bezeichnet, wie das der Kritiker Eduard Ulrich hier tut, hat vermutlich noch nicht verstanden, dass es sich dabei nicht um eine "Parabel auf das heutige Russland" oder um "westliche Klischees vom östlichen Nachbarn" handelt, sondern um den ganzheitlichen Spiegel aller Menschen aller Kulturen. Die Kleinstadt als pars pro toto für die Menschheit, wie wir als Menschen ticken. Es geht nicht um Politik, es geht um Geiz, Macht, Stolz und Egoismus, um menschliche Eigenschaften schlechthin, es geht ums Überleben, um Angst, um Existenz. Wir sind entweder korrumpierte, dekadente Nimmersatte, die herzlos einander die Schuld in die Schuhe schieben. Oder - auch nicht besser - wir sind korrumpierende, taube Kriminelle in einem Haus, das einstürzen wird oder in einem Haus mit gestohlenen Rohren. Versoffen wie wir alle sind, ist uns der Gemeinsinn abhandengekommen... Was dabei täglich in dieser Welt rauskommt, zeigt der Film als außergewöhnlich gelungenes Gleichnis – dargestellt in nur einer Nacht. Der Film ist nicht einfach gestrickt, er hat einfach in den Menschen geblickt.Mehr anzeigen


Cris9

vor 9 Jahren

Endlich wieder einmal ein Film der nachhaltig wirkt.
Intelligentes Drehbuch, Top Schauspieler, audentisch, mit einer guten Portion Spannung und natürlich bezeichnend - eine Realität, die nicht nur in Russland herrscht! Ein Film der aufwühlt, der nachdenklich


willhart

vor 9 Jahren

Wooowwww! Dass dieser Film sogar Unterstützung erhielt, obwohl er so
kritisch ist!!! Absolut sehenswert! Macht so sehr nachdenklich. Jeder ist sich so sehr selbst am wichtigsten, dass sogar der Tod des anderen allerhöchstens ein Achselzucken provoziert. Was steht uns da bevor?


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