Le fils de l'autre Frankreich 2012 – 105min.

Filmkritik

Einfach Menschsein ist nicht schwer

Filmkritik: Andrea Wildt

Die Französin Lorraine Levy nutzt die Kulisse des Nahostkonflikts, um eine zuversichtliche Version der traditionsreichen Geschichte von der Verwechslung zweier Kinder zu erzählen. Sentimental und hoffnungsvoll.

Einfach nur Mensch sein zu können scheint oft eine naive Illusion von Idealisten. Vor allem im Dauerkrisengebiet um Palästina und Israel bestimmen Herkunft, Religion und der Nachname das ganze Leben: das Recht seinen Beruf auszuüben, Zugang zu medizinischer Hilfe oder einfach nur der Zutritt zum Meer. Genau in diesen Konfliktherd zwischen Juden und Arabern setzt die französische Filmemacherin und Drehbuchautorin Lorraine Levy ihre Interpretation der Geschichte um das Vertauschen zweier Söhne nach der Geburt.

Joseph (Jule Sitruk) und Yacine (Mehdi Omari) wurden kurz nach ihrer Geburt vertauscht. Das jüdische Kind wuchs 18 Jahre lang bei einer palästinensischen Familie im Westjordanland auf. Joseph hingegen wurde in Tel Aviv nach jüdischen Ansichten und Wertvorstellungen grossgezogen. Als Joseph sich für den Militärdienst bei der israelischen Armee bewirbt, bringt ein Bluttest das jahrelang unentdeckte Geheimnis zum rabiaten Vorschein. Beide Familien müssen sich dem Fakt stellen, im eigenen Haus mit Liebe und Nahrung den Feind aufgezogen zu haben. Vor allem für die Väter ein zuerst unlöslicher Konflikt.

Das Besondere von Le fils de l'autre ist es, sein auf Gegensätzen beruhendes Ausgangs-Schema mit feinem Humor und simpler Menschlichkeit ad absurdum zu führen. Vor allem der jungen Generation fällt der Schritt auf die andere Seite ihres bisherigen Lebens nicht wirklich schwer. Nach ein paar Anlaufschwierigkeiten werden die Brüder schnell Freunde, finden gar in der neuen Familie Seelenverwandtschaften: Joseph liebt die Musik wie der Ziehvater von Yacine. Yacine hingegen schlug eine medizinische Laufbahn wie Josephs Ziehmutter (Emmanuelle Devos) ein. Aber auch die Väter halten auf ihre Weise mit: Eine der intensivsten Szenen zeigt beide zusammen in einem Strassencafé einen Espresso trinken. Keiner bringt einen Ton heraus. Ihre Hände zittern, als handle es sich um ihr erstes Date. Eine kleine Episode im Film, aber eine grosse Geste zwischen einem israelischen Armeeoffizier (Pascal Elbe) und einem jordanischen Ingenieur (Khalifa Natour).

Das grosse Thema des Films ist nicht nur ein politisches sondern vor allem ein menschliches: die Auflösung festgeschriebener Identitäten. Lorraine Levy zwingt ihre Protagonisten mit der dramaturgischen Rahmenhandlung, sich in die Welt des Anderen zu versetzten, seinen Platz einzunehmen. In Le fils de l'autre werden die Grenzen im Gaza-Streifen nicht politisch überschritten, sondern als Mensch. Von Anbeginn zieht der Film seine Zuschauer auf die menschliche Seite der Problematik und schafft es auf undramatische Weise zu zeigen, dass andere Kulturen das eigene Leben bereichern. Eine simple Erkenntnis, die aber die Weichen für die Zukunft stellt. Im Mikrokosmos von Levy beginnt der erste Schritt für eine Annäherung im Nahostkonflikt mit dem Öffnen des eigenen Herzens. Sentimental, vielleicht. Hoffnungsvoll auf jeden Fall.

14.08.2013

4

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Kommentare

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Reezy.Reez

vor 9 Jahren

Ein sehr ergreifender und intelligenter Film in so tollen Sprachen und mit einer so wichtigen und positiven Botschaft, ohne dabei zu übertreiben! Sehr sehenswert...


8martin

vor 9 Jahren

Wenn Babys in Kliniken vertauscht werden, ist das oft ein Drama. Wenn einer davon Joseph (Jules Sitruk) Jude ist und der andere Yacine (Mehdi Dehbi) ein Palästinenser, dann ist das eine Katastrophe. Mit sehr viel Feingefühl und großer Umsicht geht Regisseurin Lévy das Thema an. Sie versucht zunächst den Gefühlszustand beider Elternpaare darzustellen. Hier übernehmen die Mütter Orith Silberg und Leila Al Bezaaz den weitsichtigeren Part. Sie sind offener und flexibler, werden von absoluter gefühlsmäßiger Sicherheit gesteuert, während die Väter im nationalistischen Stolz eher verschlossen bockig reagieren. (Josephs Vater ist ein hoher Militär.) Beide bleiben stumm. Orith (Emmanuelle Devos) ist gebildet, zweisprachig und scheint zwischen beiden Söhnen keinen Unterschied zu machen. Sie bestärkt beide in ihrer Liebe und versucht sie für eine neue zu öffnen. Auch ihre Geschwister kommen zu Wort ‘Bist du noch mein Bruder? ‘ Joseph fragt sich ‘Bin ich noch Jude? ‘ Es geht um die eigene Identität. Neben den familiären Problemen geht es auch darum, wie Palästinenser Geld verdienen können. Da einigen sich Joseph und Yacine überraschend schnell. Ihre Freunde sind da eher skeptisch. Die Silbergs sind wohlhabend, Familie Al Bezaaz lebt in ärmlichen Verhältnissen. Auch ihre beiden kleinen Schwestern verstehen sich. Aber auch der Rabbi hat keine Patentlösung parat.
Viel Zeit wird auf die ehelichen Streitereien aufgewendet. Hier stehen Untreue und Seitensprünge im Raum. Ebenso ausführlich wird der Reflexion über die eigene Befindlichkeit inszeniert. Am Ende geht es in Richtung Zukunft. Ein Fragezeichen bleibt aber, vielleicht ein hoffnungsvolles. Die Jugend ist auch hier die Zukunft.Mehr anzeigen


dietmar.schillinger

vor 10 Jahren

Ein sensibler Film über Zugehörigkeit – zur Familie, zur Gesellschaft, zur Religion – mit toller Besetzung


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