CH.FILM

Das bessere Leben ist anderswo Bosnien-Herzegowina, Kuba, Schweiz 2012 – 99min.

Filmkritik

Die Sehnsucht nach Geborgenheit und Freiraum

Rolf Breiner
Filmkritik: Rolf Breiner

Sie träumen von einem besseren Leben: ein Hirte in den Bergen Sarajevos, ein Arzt in Havanna und die Krankenschwester am Zürichsee. Rolando Colla hat sie ein Jahrzehnt lang punktuell begleitet und ein sehr menschliches Zeitbild geschaffen - über Sehnsüchte, Grenzen und Einsamkeit.

Sie sind alle Gefangene ihrer Umgebung, Verhältnisse und Zeit. Sie verharren oder versuchen auszubrechen. Sie sind Zeitzeugen, Opfer, Erdulder und Täter zugleich. Der Bosnier Enver hat sich nach dem Bürgerkrieg in die Berge Sarajevos zurückgezogen, lebt mit einer Schafherde und von 30 Mark im Monat. Emilio, einst leitender Arzt in einer psychiatrischen Klinik, wurde wegen kritischer Äusserungen degradiert und fristet 2003 ein trostloses Dasein in Havanna, mit einem Sold von 20 Dollar, sagt er.

Andrea, alleinerziehende Mutter einer 13-jährigen Tochter, ist Krankenschwester und lebt in Meilen am Zürichsee. Sie will ausbrechen, aus einem Land, das "aus nichts ein Problem macht". Sie lernt einen Mann kennen, folgt ihm nach Istanbul, heiratet Özgür, nimmt ihn mit in die Schweiz, will eine neue Existenz aufbauen – und scheitert Ende der Nuller Jahre.

Der einsame Hirte, dem der Glaube an die Menschen verloren gegangen ist, wünscht sich nichts sehnlicher als Geborgenheit - eine Familie. Doch dann stirbt er 2006 und die Familie lernt ihn, seinen Kummer, seine Wünsche erst durch die Aufnahmen kennen, die Rolando Colla von ihm gemacht hat. Im Jahr 2010 sucht der Filmer das Hirtenhaus nochmals auf, die Tochter Nermina hat sich hier niedergelassen und wünscht sich einen Mann, eine Familie.

Dem "gefangenen" Arzt in Havanna, der seinen Frust, seine Aggressionen bei Hardrock-Musik abbaut, wird ein Auslandeinsatz in Bolivien ermöglicht. Ein neues Gefängnis. Er kehrt zurück nach Kuba, hat sich angepasst und hofft auf einen neuen Auslandeinsatz.

Das sind drei Schicksale, es hätten auch mehr sein können. Colla sagt, er habe 120 Gespräche geführt, 200 Stunden Material gesammelt und letztlich von acht Porträtierten diese drei herausgefiltert. Manches wird einem erst durch die Aussagen des Regisseurs klar, der sich im Film jeglichen Kommentars enthält. Das ist gut so, doch es gibt Zeitsprünge, Lücken, die der Zuschauer selber füllen muss. Gleichwohl ist dieser raue, kantige Film, der nichts beschönigt, eine Bereicherung, ein brüchiges, aber beseelendes Zeitdokument. Colla, der den Film quasi im Alleingang schuf, bringt es auf den Punkt: "Wer hier Regie führte und das Drehbuch schrieb, war die Realität selbst."

18.02.2024

4

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Kommentare

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tangy

vor 9 Jahren

Eindrucksvoll, lässt einen nicht unberührt. Sehenswert!


nell20

vor 10 Jahren

Ein Dokumentarfilm, der bewegt und einen zum Nachdenken anregt. Authentisch und gwissenhaft zeigt er die drei verschiedenen Menschen vor der Kamera. Während man sich den Film ansieht, tauchen ständig neue Fragen auf. Der Film lässt paradoxe Gefühle beim Zuschauer aufkommen: Gefühle der Unsicherheit, der Traurigkeit und der Hoffnung. Solche gemischten Gefühle beim Publikum hervorzubringen, das ist gekonnte Kunst.Mehr anzeigen


Eleyna

vor 11 Jahren

Zu Beginn fühlt es sich sehr komisch an, direkt so nah in das Innere von Menschen schauen zu können. Sowohl die Worte als die Bilder gehen sehr nah in diesem Film. Immer wieder dieselbe Frage: Welche Sehnsüchte haben diese Menschen? Und welche habe ich? Berührende Menschen, mit Feingefühl porträtiert, sehr empfehlenswert.Mehr anzeigen


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