CH.FILM

Vol spécial Schweiz 2011 – 103min.

Filmkritik

Nicht nur Henker und Opfer

Geri Krebs
Filmkritik: Geri Krebs

Eine gnadenlose Institution: Nach La Forteresse (2008) über ein Empfangszentrum für Asylbewerber stellt der Westschweizer Dokumentarfilmer Fernand Melgar das Ausschaffungsgefängnis Frambois bei Genf ins Zentrum seiner filmischen Recherche.

In der Schweiz gibt es 28 Ausschaffungszentren für Ausländer, die sich ohne gültige Aufenthaltspapiere im Land aufhalten. Laut Gesetz kann ein Ausländer bis zu zwei Jahren in einem derartigen Ausschaffungsgefängnis festgehalten werden, während dieser Zeit wird die Rückführung in die jeweiligen Ursprungsländer der betreffenden Personen vorbereitet. Für die Rückschaffung gibt es - je nach Kooperationsbereitschaft - für diese Gefangenen drei verschiede Optionen: Begleitung des Auszuschaffenden vom Gefängnis bis zum Flugzeug durch Polizeibeamte, Begleitung des mit Handschellen gefesselten Auszuschaffenden während des ganzen Fluges durch Polizeibeamte, oder schliesslich die Rückschaffung des gefesselten und vollständig immobilisierten Gefangenen in einem eigens gecharterten Spezialflug.

So kalt bürokratisch und institutionell technisch lassen sich die Fakten zusammenfassen, denen in der Schweiz jährlich tausende von Menschen ausgesetzt sind. Fernand Melgar hat nun während mehrerer Monate im Gefängnis Frambois beim Flughafen Genf gedreht und dabei den Alltag von sechs vorwiegend afrikanischen Ausschaffungsgefangenen bis zum Tag ihrer Abschiebung dokumentiert. Dabei zeigt er eine seltsame Zwangsgemeinschaft, bei der man in gewissen Momenten gar zu vergessen droht, wie die Machverhältnisse wirklich sind - bis der Moment der "Abreise" kommt. Vol spécial ist weder ein Pamphlet noch ein Agitationsfilm, sondern ein nüchternes Porträt einer Institution, das in seinen besten Momenten ein wenig an die Filme von Frederic Wiseman erinnert.

Es gibt in der Schweiz wenige andere Dokumentarfilmer, die sich wie Melgar direkt an gesellschaftliche Brennpunkte begeben, sich den dortigen Verhältnissen aussetzen und mit klarem Blick das Geschehen mit der Kamera dem Aussenstehenden sichtbar machen. Es ist dieses Sich-Aussetzen und das Zeigen von Situationen, die so verdrängt wie beschämend sind und manchen Leuten in den falschen Hals geraten. Der Umstand, dass Vol spécial auch die "guten" und "humanen" Wärter in ihrem Bemühen zeigt, sich vor der Kamera ins beste Licht zu rücken, dies einfach so stehen lässt, hat sich beispielsweise Paolo Branco, den Jurypräsidenten des Filmfestivals von Locarno zu der Bemerkung hinreissen lassen, bei Vol spécial handle es sich um einen "faschistischen" Film.

Sein Urteil begründet er damit, Melgar mache sich zum "Komplizen eines gewöhnlichen Faschismus", weil er die - wie Branco sie nennt - "Henker" ebenso zu Wort kommen lässt und bei ihrer Arbeit zeigt wie die Gefangenen. Das starke Wort hält Branco für angebracht, weil am Ende des Films erwähnt wird, dass ein ausgeschaffter Nigerianer, der zuvor im Zürcher Flughafengefängnis inhaftiert gewesen war, vor einem "Vol spécial" an den Folgen der Fesselung gestorben sei, und zwei ausgeschaffte Häftlinge aus Frambois sich im gleichen Flug befunden hatten. Hätte deshalb Fernand Melgar diesen Film nicht machen dürfen, hätte er nicht zeigen dürfen, was die laufende Verschärfung der Ausländer- und Asygesetze in der Schweiz für die Betroffenen konkret bedeutet?

19.10.2011

4

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Kommentare

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nadeya

vor 12 Jahren

mitreissende doku über die situation der abgewiesenen asylbewerber in der schweiz. der regisseur versucht ein objektives bild zu zeichnen, was ihm auch sehr gut gelingt. ein muss für jeden schweizer der 2008 ein ja für die verschärfung des asylgesetzes in die urne gelegt hat.


zuckerwättli

vor 12 Jahren

wichtiger Film den jeder sehen sollte. er zeigt und schubladisiert nicht, zeigt aber auch keine vorschnelle lösungsansätze - man wird zum nachdenken angeregt und hoffentlich auch zum handeln


defiant1898

vor 12 Jahren

Der Film ist voller Polemik und an Naivität kaum zu übertreffen! Immer wieder wird den Auszuschaffenden die Gelegenheit gegeben mit politischen Statements auf die Schweiz einzudreschen. Gegendarstellungen oder wie das Ausländerproblem gelöst werden sollte, werden gar nicht erst angesprochen geschweigen den beantwortet. Ein sehr einseitiges Werk.Mehr anzeigen


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