Die Einsamkeit der Primzahlen Frankreich, Deutschland, Italien 2010 – 118min.

Filmkritik

Der Terror des Traumas

Jean Lüdeke
Filmkritik: Jean Lüdeke

Saverio Costanzo bannt die unwägbare Geometrie der Gefühle zweier junger Menschen, die sich annähern, jedoch nie völlig vereinen können, in berührende Bilder voller Intensität und Intimität.

"Weder mit Dir noch ohne Dich": Der Kernsatz aus Truffauts Kultdrama La femme d'à côté trifft den Ton dieses melancholisch-heiteren Dramas ziemlich genau. Nur verhält es sich hier noch komplizierter. Primzahlen sind, wie man weiss, nur durch sich selber und durch eins teilbar, mehrstellige werden zu komplizierter Mathematik. Und genau die wird hier zur Prämisse, zum Lebensinhalt von Mattia Balossino (Luca Marinelli).

Er erleidet als Kind eine Tragödie, die fortan sein gesamtes Leben verpfuscht. Als er zum Geburtstag eines Klassenkameraden eingeladen wird, lässt er seine behinderte Zwillingsschwester unbeaufsichtigt im Park zurück. Sie wird für immer spurlos verschwunden bleiben. Deshalb zermartert Mattia sich selbst mit Schuldgefühlen, ritzt sich Arme und Beine blutig. Hoffnung findet er allein in der Mathematik. In der Schule trifft er auf Alice (Alba Rohrbacher). Sie verunglückte als Kind beim Skifahren so schwer, dass sie für den Rest ihres Lebens humpelt und von allen anderen gemobbt wird. Die Folge sind Einsamkeit und Magersucht. Mattia und Alice erkennen ihre Seelenverwandtschaft. Aber so symmetrisch sie fühlen, so asymmetrisch verläuft ihre Annäherung. Als sie sich aus den Augen verlieren und erst nach Jahren wiedersehen, müssen sie eine Entscheidung fällen, um die Gesetzesmäßigkeit und die Einsamkeit der Primzahlen zu überwinden.

In seinem gleichnamigen Roman La solitudine dei numeri primi bewies der italienische Teilchenphysiker Paolo Giordano mit nur gerade 26 Jahren, wie leichtfüßig sich Fantasie und Fiktion mit trockener Naturwissenschaft verbinden lassen. Es war eine schier unmögliche Aufgabe für den Filmemacher Saverio Costanzo, diesen schweren Stoff zu verfilmen. Er mikroskopiert seine Figuren über drei Jahrzehnte, um dem Zuschauer die Seelenpein seiner Protagonisten vorzuführen. Komplizierte Gedankenkonstrukte und Fantasie lassen sich schwerlich visualisieren. Costanzo gelingt es in seinem dritten Spielfilm, indem er die beiden Ebenen elegant miteinander verknüpft. Epische Bildfolgen, die teilweise von wummernder Discomusik untermalt sind, wechseln sich mit schroffen Einstellungen ab, die mit stummer Beredsamkeit, insistierenden Blicken und intensiven Gesten oft mehr sagen als ein ganzes Buchkapitel.

15.08.2011

4

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Kommentare

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lonas2

vor 11 Jahren

Das Buch hat mit eindeutig besser gefallen.


oberon7

vor 12 Jahren

Es ist so angenehm, im Kino wiedermal italienisch zu hören... dachte ich während des Filmes und nicht dauernd zwischen den Hollywoodstereotypen die Handlung zusammenkramen zu müssen...
Primzahlen und Zwilinge, ein Thema das schon Peter Plichta auf der anderen Seite der Alpen durchlebte, ist faszinierend und erlaubt einen Blick in schöpferische Gesetze. Sie wirkt auch im Film im Hintergrund, führt Personen zusammen und trennt Personen. Das Wirken dieser unaussprechlichen Kräfte wird mE meisterhaft gezeigt. Die Sichtbare Handlung ist zudem so liebevoll geführt, wie es vielleicht nur die italienische Mentalität erlaubt. Die geistige Kraft des Piemont in einem Film zu erleben ist wahrlich ein lohnendes Erlebnis und war für mich völlig neu!Mehr anzeigen


güx

vor 12 Jahren

Positiv: Die Darsteller (vor allem die Kinder und Jugendlichen) sind spitze.
Negativ: Der Film kam mir fast doppelt so lang vor als er tatsächlich ist - manche Szenen sind ohne Not extrem in die Länge gezogen. DIe "Suspense"-Elemente nervten mich mit der Zeit (aus meiner Sicht sind diese ebenfalls meist unnötig, gehören aber wohl zur Handschrift des Regisseurs).
Unterm Strich sehr anstrengende, anspruchsvolle Kost (das wusste ich allerdings vorher, da ich das Buch gelesen habe). Die Qual, die die Protagonisten erleiden, war/ist für mich beinahe unerträglich. Ein sehr intensiver Film, darauf muss man sich einlassen können. Ich fand's too much.Mehr anzeigen


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