Die Fremde Deutschland 2010 – 119min.

Filmkritik

No Direction Home

Flavia Giorgetta
Filmkritik: Flavia Giorgetta

Eine in Deutschland aufgewachsene Türkin versucht, ein selbstbestimmtes Leben zu führen und gleichzeitig den Kontakt zu ihrer traditionellen Familie zu wahren. Doch wo die Ehre mehr zählt als das Glücklichsein, kann dies nicht gelingen.

"Blut ist dicker als Wasser". Diesen Satz hat die Türkin Umay von ihrer Mutter gelernt, nun schleudert sie ihn in die Hochzeitsgesellschaft ihrer Schwester.Umay (Sibel Kekilli) ist hier unerwünscht, da sie nicht nach den Regeln ihrer Familie leben will. Sie ist mit ihrem Sohn Cem vor ihrem gewalttätigen Ehemann zu ihren Eltern und Geschwistern geflüchtet, von Istanbul nach Berlin, wo sie aufgewachsen ist.

Der Regie-Erstling der österreichischen Schauspielerin Feo Aladag zeigt Umays Zerrissenheit feinfühlig. Für sie - dies das ernüchternde Fazit des Films - gibt es keine Lösung. Freiheit und Geborgenheit schliessen einander aus. Die Eltern gewichten die Ehre höher als das Wohl ihrer Tochter, doch nie zeigt Aladag sie als Monster. Alle leiden in "Die Fremde": Umays jüngerer Bruder, der am Schluss die Waffe auf sie richtet. Die Mutter, von der die Nachbarin nichts mehr wissen will. Die jüngere Schwester, die Umay so liebt und sich ihrer doch schämt.

Umay hielt es nicht aus in der Türkei, aber auch in Deutschland findet sie keinen Platz. Sie mag nicht in einer Parallelgesellschaft leben, in der sicheine Frau unterzuordnen hat. Doch ihre Eltern halten an den Gesetzen fest, die ihnen eingetrichtert wurden. Es zählt der Schein - egal, was die Oberfläche verbirgt. Als Umay ihrem Vater von den Schlägen erzählt, antwortet dieser: "Er ist dein Ehemann." Umay sieht nicht ein, weshalb sie nicht glücklich sein darf, und weshalb ihr die Eltern dieses Glück nicht wünschen. Immer wieder taucht sie zuhause auf, will sich ihren Platz in der Familie zurückerobern. Doch zu öffentlich ist ihre Ausgeschlossenheit bereits. Ein eigenen Gesetzen folgendes Ehrgefühl ist eben dicker als Blut.

Sibel Kekilli in der Hauptrolle ist eine Wucht. Sie verkörpert Umay als würdevolle, starke und doch verletzliche Frau - mit kleinen Gesten oder Blicken, die die Regisseurin in langen, ruhigen Einstellungen festhält. Wie bereits in Fatih Akins "Gegen die Wand" spielt Kekilli eine Türkin, die sich nicht den ihr auferlegten frauenfeindlichen Regeln unterwirft. Adalag weiss um die Schwierigkeit eines solchen Ausbruchs und schenkt uns kein Happy End. Dafür einen aufwühlenden Film, der zu Diskussionen über Werte anregt. Und darüber, ob sich verschiedene Kulturen vereinbaren lassen.

06.09.2010

4

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Kommentare

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nilsw

vor 13 Jahren

Hier wird kein türkisches Sittengemälde gezeigt, sondern eine präzise Studie einer patriarchalischen Familienstruktur und ihrer konfliktreichen Beziehung zur Moderne. Wie sich dies auf die einzelnen Familienmitglieder auswirkt, wie sie sie zu unterwandern versuchen oder bewahren müssen, zeigt "Die Fremde" mit schonungsloser Intensität und ohne Schwarz-weiss-Malerei anhand einer Tochter, die sich emanzipieren will und dabei ihrer Familie und den Traditionen immer fremder wird. Der Film zeigt aber auch die innere Zerrissenheit des Vaters, der sich für seine Tochter oder für die Ehre seiner Familie entscheiden muss, was zugleich eine Analogie für den Konflikt zwischen Moderne und Tradition darstellt. Eine traditionalistische Parallelgesellschaft mag in sich gut funktionieren, ihre Vereinbarkeit mit dem Umfeld ist jedoch problematisch und die Negierung ihrer Strukturen innerhalb des Systems beinahe unmöglich wie das Beispiel von Umay zeigt. Dass der Film solche Themen differenziert und einfühlsam, und nicht schematisch behandelt, liegt nicht nur am sehr guten Drehbuch, sondern auch an den fein ausgearbeiteten Charakteren, die von gradiosen Schauspielern verkörpert werden. Die unprätentiöse Machart trägt ebenso ihren Teil zur Güte des Films bei.

Der Film geht an die Nieren und hallt lange nach. Man sollte aber nicht das Gefühl haben, in jeder türkischen Familie gehe es so zu und her. Ebenso wenig ist der Islam schuld. Stark ausgeprägter Patriarchalismus ist ein Kennzeichen fundamentalistischer Gruppierungen verschiedenster religiöser Traditionen.Mehr anzeigen


ayselina

vor 13 Jahren

sibel spielt sehr gut. auch der junge ist hervorragend! ich fand den film gut bis sehr gut aber nicht top. was mich ein bisschen stresst ist dass gewisse leute den film anschauen und dann das gefühl haben in jeder türkischen familie läuft das so ab. manchmal habe ich auch das gefühl dass die europär so richtig auf solche themen warten um sagen zu können eben es ist halt so wie wir es schon immer gehant haben. es gibt sicher so fälle das will ich nicht bestreiten aber es gibt auch viele familien die 100% zu ihrer tochter stehen würden auch das darf man nicht vergessen...Mehr anzeigen


fredoo

vor 13 Jahren

... hatte ich beim Versuch, während des Abspanns aufzustehen.
Da existieren ja einige Magengrubenfilme (Antichrist), wo einem ein gewisser Brechreiz überkommt. In diesem Film jedoch werden die Nerven noch gezielter, fieser zerstört. Bei allen Szenen im Familienkreis wird der Zuschauer dermassen "gefoltert", weiss er doch nie, ob nun gleich ne krasse Watschen folgt oder jemand umarmt wird.
Das Finale wird dann..... ich sag gscheiter nix mehr. Wahrscheinlich vorläufiger Spitzenreiter der Abteilung: wie komme ich ohne meinen gerade erlebten Schock wieder heil aus dem Kino raus....
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