Couscous mit Fisch Frankreich 2007 – 151min.

Filmkritik

Abtauchen, Duft holen

Stefan Gubser
Filmkritik: Stefan Gubser

Abdellatif Kechiche erzählt in seinem dritten Spielfilm von einem tunesischen Hafenarbeiter in Frankreich, der sich in den Kopf gesetzt hat, ein Restaurant zu eröffnen. Das hat Hand und Fuss, braucht aber ordentlich Sitzleder.

Fast eine Anmassung, wie viel Zeit sich dieser Film nimmt. Das Schimpfwort "Langeweile" ist hier fehl am Platz, aber es geht schon eine sehr lange Weile, bis die Figuren exponiert sind, der kleine Kosmos einer maghrebinischen Grossfamilie in einem südfranzösischen Hafenstädtchen entworfen ist: der alternde Slimane (Habib Boufares), der seinen Job auf der Werft verliert, die Geliebte (Hatika Karaoui), in deren Hotel er ein Zimmer bewohnt, seit er sich von seiner Frau getrennt hat, die Töchter und Söhne, ihre Gefährten und Affären, eine Handvoll Musiker und ein Kanarienvogel, der nicht mehr singt.

Alles dauert in "La graine et le mulet", und nichts passiert - nicht viel jedenfalls. Man steht in der Küche. Man setzt sich zu Tisch. Man isst. Streitet. Schreit. Redet. Raucht. Weint. Trinkt. Streitet sich wieder. Gefühlte dreissig Minuten beansprucht allein die Episode, in der Slimane mit seiner Stieftochter (Hafsia Herzi) eine Bewilligung zu erhalten versucht; er träumt davon, auf einem abgetakelten Lastschiff ein Restaurant einzurichten. Die letzte Stunde wartet man gemeinsam mit den zur Eröffnung geladenen Gästen auf einen Couscous, der nie aufgetragen wird, betrinkt sich mit Dattelschnaps und berauscht sich an der wohl längsten Bauchtanzszene der jüngeren französischen Filmgeschichte.

Die exzessive Langsamkeit von Abdellatif Kechiches drittem Spielfilm - 2007 in Venedig mit dem Spezialpreis der Jury und ein Jahr später mit vier französischen "Césars" ausgezeichnet - ist natürlich Programm. Diese ans Pedantische rührende Genauigkeit ebenfalls: Jede Szene wird ausgespielt. Wiederholt verweilt die Kamera minutenlang auf den Gesichtern der Schauspieler, von denen die meisten Laien sind, denen jede Sekunde anzusehen ist, dass sie genau wissen, wie Ausgrenzung und Zerrissenheit sich anfühlen. Auch ihretwegen wähnt man sich in "La graine et le mulet" phasenweise in einem Dokumentarfilm. Er hat sich ganz den kleinen Dramen des Alltags verschrieben, die grosse sind, auch wenn sie nicht den explosiven Geschichten der Immigranten gleichen, die in den trostlosen Vorstädten Autos abfackeln, Drogen verkaufen müssen oder in Schiessereien sterben.

Auf solche "bigger bangs" hat Kechiche, der in Tunis geboren wurde und in Frankreich lebt, seit er sechs ist, konsequent verzichtet. Er entwickelt die Handlung wie nebenbei in Dialogen, wenn sie sich mal nicht um Windeln drehen oder Arbeitsplätze, die verloren gehen, weil schon wieder eine Fischkonservenfabrik ins Ausland abwandert. Noch dort, wo es so etwas wie "Action" im Ansatz gäbe, zeigt der Regisseur sie lieber nicht, deutet sein Erzähl-Kino sie höchstens an. Wie jener Kahn trotz aller Widerwärtigkeiten wieder "flottgemacht" wird, bleibt praktisch ausgespart, und eine plötzliche Flucht im Auto, die einen finalen Showdown vorbereitet, geht komplett vergessen. Die Lage mag verfahren sein, scheint Kechiche zu flüstern. Hoffnungslos ist sie deswegen noch lange nicht.

03.09.2008

3

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Kommentare

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8martin

vor 3 Jahren

Der alte Slimane (Habib Boufares) arbeitet seit über 30 Jahren im Hafen von Sète. Kinder und Enkel, seine Ex und seine Geliebte wollen helfen, dass er sich seinen Traum erfüllen kann: ein Couscous Restaurant auf einem alten Schiff. Innerhalb des Familienverbandes gibt es viel Palaver, auch bisweilen Streit. Opa Slimane glättet die Wogen, tröstet und scheint überall präsent zu sein. Die Behörden machen aber nicht mit, der finanzielle Rahmen reicht vorne und hinten nicht. Trotzdem steigt eine Einweihungsparty mit vielen lokalen Ehrengästen. Aber sonst geht fast alles daneben. Einziges Highlight ist der Bauchtanz von Enkelin Rym (Hafsia Herzi). Dabei vergessen die Gäste sogar, dass es fast nichts zu essen gibt. Slimane verlässt das Fest und endet am Straßenrand neben seinem Moped. Ende! (Ein dramatischer Vorhang!). Da kann man sich fragen ‘Ist das Ganze bloß ein Märchen‘, das uns Regisseur Abdellatif Kechiche da auftischt? Er erzählt mit authentischen Akteuren, die uns mit ihrem maghrebinischen Charme verzaubern. Worauf es hier ankommt, ist der Zusammenhalt des Clans, Generationen übergreifend und die atmosphärische Stärke, die das schier Unmögliche möglich macht. Wir bekommen Einblicke ins familiäre Zusammenleben des Clans, wenn die Kamera (Lubomir Bakschew) die unterschiedlichen Gefühlsebenen beleuchtet.Mehr anzeigen


Barbarum

vor 8 Jahren

Eine Art noch neuerer Neorealismus. Erinnerte mich an "Fahrraddiebe". Auf unaufdringliche Weise schafft es Kechiche den Zuschauer für die Schicksale seiner Charaktere zu interessieren, so verfolgen wir ihre Wege, auch wenn ihnen nur ihre eigenen Leben widerfahren. Authentisch gemachtes Kino, aber auch extrem lang geraten und hin und wieder spürt man diese Länge auch.Mehr anzeigen


Klaus1108

vor 13 Jahren

Der Film ist etwas lang, aber absolut beeindruckend. Wie Rym sich für ihren Stiefvater einsetzt, ist bewundernswert. Aber auch die Darstellung der arabisch-französischen Grossfamilie ist lebensnah und faszinierend.


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