Voces inocentes Mexiko, Puerto Rico, USA 2004 – 120min.

Filmkritik

Kinderwahnsinn

Stefan Gubser
Filmkritik: Stefan Gubser

Was "Machuca" für Chile, ist "Voces inocentes" für El Salvador: Die Geschichte einer Kindheit in Zeiten kriegerischer Wirren. Oder besser, nein, schlimmer: Die Geschichte keiner Kindheit, erlitten in einer Welt als Schachtfeld und Spielplatz. Anschauen!

Wer El Salvador sagt, muss auch Bürgerkrieg sagen. Und dann (Google) fragen: Wie war das nochmal? Es war so, damals in den 1980ern in dem Zwergstaat, den man "Floh Amerikas" nennt: Die Regierung korrupt, die Mehrheit der Bevölkerung ebenso mittel- wie rechtlos, Bauern, Landarbeiter, arme Schweine. 1979 scheiterte zum wiederholten Mal der Versuch einer gerechten Landreform. "Venceremos" riefen, die nichts zu verlieren hatten, gaben sich den langen Namen "Frente Farabundo Marti para la Liberacion Nacional" und verbluteten im Kampf gegen die regierungstreue Armee. Buchhalters Bilanz nach zwölf Jahren Bürgerkrieg: 80'000 tot, 8'000 "verschwunden", eine Million geflohen. Film ab.

Regen strömt, er soll Sündflut heissen. Geschnürte Stiefel stechen durch schlammigen Grund. Kinder werden abgeführt. Chava (Carlos Padilla) und seine Freunde sind es, so zeigt sich bald, und das war vom grausamen Ende der Anfang. Sonnenklar sogleich: Hier ist mit dem Schlimmsten zu rechnen. Hier hat ein Elfjähriger seinen Mann zu stehen, während die Blechhütte im Kugelhagel der Machinenpistolen liegt, die Geschwister buchstäblich aus dem Schlaf schiessen, Mama (Leonor Varela) ausser Hause ist und kein Vater, nirgends. Kindheit, kannst du grausam sein: Wer zwölf ist, den greift die Armee; weil es so praktisch ist, direkt auf dem Schulhof. Kaum können diese Buben richtig lesen, schult der Staat sie zu Mördern, oder sie schlagen sich zur Guerilla. Aber macht das letztlich einen Unterschied?

Ein erschütternder Film, dieses Kinderkriegsdrama des Mexikaners Luis Mandoki, der sich in Hollywood mit Herzschmerz à la "Angel Eyes" und "Message in a Bottle" einen Namen machte, bevor er mit "Voces inocentes", einer mexikanischen Produktion, erstaunlich gefühlsunduselig Oscar Torres' autobiographisches Script verfilmte. Eindrücklich ist die grosse, vielleicht etwas lang geratene Geschichte des Leidens vor allem, weil sie konsequent aus der Perspektive der Kinder erzählt wird. Dieser Blick von unten macht möglich, dass der Film weit mehr als die Frage verhandelt, wer denn (politisch) gut sei und wer schlecht. Merke nur: Es gibt keine richtige Kindheit in einer falschen Welt.

Und dann zeigt "Voces Inocentes" eben auch den anderen Wahnsinn eines Heranwachsens im Kriege, die Momente der Ruhe nämlich, in denen sich so etwas wie Normalität einstellt. Keine Szene belegt dies eindrücklicher als jene, in der die Buben sich eines Morgens auf die Dächer ihrer Hütten legen, um den Häschern der Armee zu entgehen, einfach liegen bleiben, bis sie, es ist längst Nacht geworden, nach den Sternen greifen - sie haben alles vergessen. Die Welt als Spielplatz und Schlachtfeld: grausam, Verzeihung, gut.

01.06.2021

4.5

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Kommentare

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momotombo

vor 18 Jahren

Seit Wochen die Nr. 1 in El Salvador, die Wahrheit wird gezeigt und das Volk schaut sich dieser Film zu 100. 000ende an. Unbedingt anschauen!


andi2011

vor 18 Jahren

Ein Meisterwerk... werde sehr wahrscheindlich den Film morgen wieder anschauen gehen! Ein emotionaler Film der tränen vergiessen lässt! Sehr gute Schauspieler!! Hoffe dass die DVD nicht lange auf sich warten lässt!


alison15

vor 18 Jahren

Ein eindrücklicher und harter Film. Gleichzeitig gibt es bewegende Momente, nicht nur in der Trauer aber auch in den wenigen schönen Augenblicke, die diese Kinder erleben. Man läuft aus dem Kino und denkt sich, was haben wir nur für ein verdammtes Glück hier aufzuwachsen, während anderen Kindern die Kindheit so früh gestohlen wird...Mehr anzeigen


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