CH.FILM

Monte Grande - Was ist Leben? Schweiz 2004 – 84min.

Filmkritik

Moderner Sokrates

Filmkritik: Eduard Ulrich

Selten sind Naturwissenschaftler Gegenstand eines Dokumentarfilms. Dass mit dem 2001 verstorbenen Francisco Varela ein Biologe und Wahrnehmungs-Forscher unserer Zeit porträtiert wird, hat seinen Grund: Er hat eine bahnbrechende Hypothese zum Selbstverständnis der Wissenschaft entwickelt, deren Folgen noch nicht abzusehen sind. Besonders berührt seine tapfere Haltung im Angesicht des allzu frühen Krankheitstodes.

In Chile geboren und aufgewachsen, erhält Varela ein Stipendium für die Elite-Universität Harvard, an der er sein Biologiestudium in kurzer Zeit erfolgreich abschliesst. Aber schon dort frisst er über den Hag, indem er sich dafür interessiert, was Wissen und Weisheit eigentlich sind: Wie gelingt es einem Menschen, ein konsistentes Bild seiner Umwelt zu gewinnen, obwohl das naturwissenschaftliche Fundament brüchig ist?

Varela beeindruckt durch seine klaren Gedanken und tiefschürfenden Fragen, was einen seiner Professoren bemerken lässt, dass nicht immer offensichtlich gewesen sei, wer der Lehrer und wer der Schüler gewesen wäre. Dennoch bleibt er bescheiden und unkompliziert, selbst als ihn eine steile Karriere in die Arena des internationalen Wissenschaftsbetriebs führt. Treu seiner Maxime, dem gefestigten Wissen zu misstrauen, relativiert er seine eigene Rolle, indem er sie mit derjenigen eines mittelalterlichen Troubadours vergleicht, der gegen Kost und Logis sein Lied singt.

Der Film von Franz Reichle ("Das Wissen vom Heilen") bietet zahlreiche Kommentare und Anekdoten - sowohl von Varela selbst als auch von Verwandten, Bekannten, Mitarbeitern und Lehrern. Das ist unterhaltsam, geht aber zu Lasten der wissenschaftlichen Substanz. So erfährt man zwar, womit sich Varela befasste und worin sein spezieller Ansatz bestand, der die Harmonie zwischen Systemen als notwendige Voraussetzung des Verstehens ansah, konkrete Konsequenzen und Einsichten aber sind rar.

Stattdessen kommt uns die Person sehr nah: Sein Lebensumfeld wird gezeigt, und ältere Aufnahmen des gesunden, energiegeladenen Varela werden denjenigen gegenübergestellt, die einen todkranken, aber gefassten und konzentrierten Meisterdenker zeigen. Dem antiken Sokrates gleich, der den Schirlingsbecher getrunken hatte und wusste, dass er nur noch wenige Stunden zu leben hatte, und dennoch in aller Ruhe die Gespräche mit seinen Schülern fortsetzte, erzählt Varela, was ihn die todbringende Krankheit lehrt, und folgt so seinem sich selbst reflektierenden Erkenntnisprozess.

Diese Konsequenz bis hin zum eigenen Tode überzeugt unmittelbar, so dass man die vermittelte phänomenale Wertschätzung seiner wissenschaftlichen Bedeutung gern glaubt. Angenehmerweise bleibt die Regie vollständig im Hintergrund und die Wortwahl sachlich - beispielsweise fällt das Wort "Genie" nie.

19.02.2021

4

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