Capturing the Friedmans USA 2003 – 107min.

Filmkritik

Die Leute von nebenan

Filmkritik: Andrea Bleuler

"Capturing the Friedmans" ist Albtraum einer Familie und Traum eines Dokumentarfilmers in einem: In den späten Achtzigern werden der pädophile Vater Arnold Friedman und sein jüngster Sohn in Dutzenden von Fällen des Kindsmissbrauchs und der Vergewaltigung bezichtigt. Autor Andrew Jarecki stand für seine Aufarbeitung dieser tragischen Geschichte ein ganzes Archiv von Familien-Filmen zur Verfügung.

Um Thanksgiving 1987, dem wichtigsten Familienfest in den USA, wird das Haus der Friedmans, einer bürgerlichen Familie mit drei Söhnen in Great Neck, Long Island, durchsucht. Familienvater Arnold, pensionierter Lehrer mit einer Leidenschaft für Musik und Performance-Künste, der bei sich zu Hause den Nachbarskindern Computerstunden gibt, versteckt in seinem Hobbyraum Kinderpornographie.

Die anschliessenden Untersuchungen der lokalen Polizei bringen zu Tage, dass nicht nur der Vater, sondern auch Sohn Jesse Nachhilfeschüler unzählige Male sexuell missbraucht haben soll. Dazwischen ereignet sich, was man als eine moderne Hexenjagd bezeichnen könnte. Arnold gesteht, zweimal "die Grenze überschritten" zu haben, allerdings nicht in seinem Wohnort.

Andrew Jarecki hat Aussagen von Familienmitgliedern, Anwälten, Untersuchungsbeamten, Journalisten, Kriminologen und angeblichen Opfern gesammelt und mit dem Fundus der hobbyfilmenden Familie verwoben: Super-8-Familien-Filme aus glücklichen Tagen, das verzweifelte Videotagebuch des ältesten Sohns David (heute Kinderclown) aus der Zeit der Untersuchungen und ein kurzer Schwarzweiss-Film von Arnolds Ballet-tanzendem Schwesterchen, das mit sechs Jahren an Blutvergiftung starb.

Jarecki versucht, schnellen Vorurteilen vorzubeugen, indem er mit Diplomatie ordnet, wann was erzählt wird. Um so erstaunlicher ist es, dass Bildmontagen, die sein "Dokument" etwas strukturieren - Vororts-Stilleben mit vorbeiziehenden Wolken vor märchenblauem Himmel - nicht nur ungelenk gestaltet, sondern musikalisch in einer Weise überschmiert werden, die emotional ganz klar suggestiv ist.

"Capturing the Friedmans" ist in erster Linie ein bemerkenswerter Dokumentarfilm, weil aussergewöhnliches Material zur Verfügung stand. Jarecki seinerseits hat den Film sehr verantwortungsbewusst komponiert: Es gelingt ihm, keine Position zu ergreifen. Die Wahrheit ist am Ende unfassbarer als zu Beginn des Films, und alleine dadurch ist man ihr schon näher gekommen.

09.01.2024

4

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Kommentare

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pburckhardt

vor 20 Jahren

Wahnsinn. Ein so eindrückliches Dokument über die menschliche Psyche.


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