All or Nothing Frankreich, Grossbritannien 2002 – 128min.

Filmkritik

Fiebermessung

Filmkritik: Andrea Bleuler

Mike Leigh, der grosse Poet des Alltäglichen und des Wahrhaftigen, hat 1999 mit "Topsy Turvy" bewiesen, dass er durchaus auch für Leichtfüssiges zu haben ist. Sein jüngstes Werk knüpft aber an sein Sozialdrama "Meantime" (1983) mit Tim Roth und Gary Oldman an und bringt ähnlich hochkarätige Schauspieler-Entdeckungen zum Vorschein.

Schicksalsgemeinschaft in einer baufälligen Hochhaussiedlung im Süden Londons. Taxifahrer Phil (Timothy Spall) und seine Frau Penny, ihre Kinder, Freunde und Nachbarn krebsen allesamt am Existenzminimum herum. Sorgen gibt es endlos viele, Perspektiven jedoch kaum. Mit schlechten Jobs und Gelegenheitsarbeiten versuchen die einen ihre Familie über Wasser zu halten. Wer keine Arbeit hat, widmet sich mit Leib und Seele einer Sucht, um sich einen Reim auf sein Dasein zu machen: Alkohol, Essen, vor der Glotze sitzen.

Im täglichen Überlebenskampf macht sich emotionale Kälte und Einsamkeit breit. Für die ältere wie die junge Generation scheint Freundschaft und Solidarität ein Luxus, den man sich unter den vorherrschenden Umständen nicht mehr leisten kann.

Mike Leigh lässt auch in diesem Film beklemmend viel Filmzeit vergehen, bis das Leben diese Menschen eines Besseren belehrt - beinahe allzu viel, um noch glaubwürdig und nicht aufgesetzt pessimistisch zu wirken. Löblicherweise lockert Leigh seine Schwarzmalerei inszenatorisch auf. So auch geschehen in jener Szene, als eine arrogante wohlbetuchte Pariserin dem Taxifahrer offenherzig von ihren eigenen Frustrationen berichtet: Trotz aller Gegensätze inspirieren sich die beiden gegenseitig - doch verzichtet der Regisseur darauf, dies gross aufzuhängen.

Insbesondere die Figur von Taxifahrer Phil (hervorragend gespielt von Timothy Spall aus "Secrets and Lies") verkörpert eine ganz überraschende Paarung von Misere und Komik. Richtig herzzerreissend wirkt das Abendritual des Familienvaters, der kurz vor dem Schlafengehen das Geld für die Taximiete bei allen Familienmitgliedern zusammenschnorren muss, um am nächsten Tag seinem Chef einen Haufen Kleingeld zu übergeben.

Neben seinem Flair für ergreifende Alltagsszenen bestätigt sich in "All or Nothing" erneut Leighs Ruf, ein goldenes Händchen für talentierte Jungschauspieler zu haben: Allen voran ist an dieser Stelle Sally Hawkins zu erwähnen, die als Samantha von der provokativen nichtsnutzigen Quartierschlampe zu einer der wenigen initiativen Persönlichkeiten mutiert.





04.04.2012

4

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vor 14 Jahren

Mike Leigh hat eine komplexe Milieustudie der Working Class abgeliefert. In der Plattenbau-Tristesse herrschen Arbeitslosigkeit, Geldprobleme und Aggressivität. Dabei gibt es aufmüpfige, rotzfreche Kids, die mitunter etwas zu dick geraten sind. Zwischen Eltern und Kindern herrscht ein äußerst rauer Ton. Im Mittelpunkt steht ein gutmütiger, nicht gerade arbeitswütiger Taxifahrer, der mit seinem Leben nicht zufrieden ist. Und wenn etwas passiert, merkt man die Hilflosigkeit - auch in der Trauer und im Schmerz. Ein Highlight ist Karaoke im Pub, wobei man sich die Kante gibt. Der finale Höhepunkt ist eine eheliche Auseinandersetzung, in der alles oben Erwähnte zur Sprache kommt und ein sensibler, tränenreicher Versuch gemacht wird, alles wieder ins Lot zu bringen. Dann liegt ihr wahres Leben wieder irgendwo zwischen dem Alles und dem Nichts.Mehr anzeigen


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