CH.FILM

Blue End Schweiz 2000 – 85min.

Filmkritik

Erlösung durch die Wissenschaft

Filmkritik: Nathalie Jancso

Joseph Paul Jernigan wird 1993 im berüchtigten Todestrakt von Huntsville, Texas, hingerichtet, nachdem er 12 Jahre im Gefängnis gesessen hat. 39 Jahre alt, gesund, keine 1.80m gross, entspricht er dem Prototypen des männlichen Körpers, wie ihn die medizinische Forschung brauchen kann. 10 Minuten nach seinem Tod wird er von zwei Forschern in Empfang genommen, in blaue Gelatine eingefroren und danach millimeterweise abgehobelt und fotografiert. Seine Anatomie wird im Internet ausgestellt und sein Fall als "The Visible Man" berühmt.

In Interviews mit Jernigans Bruder, seiner Exfrau, dem Richter, seinem Anwalt, dem Gefängnispfarrer und den beiden Wissenschaftlern Dr. Spitzer und Dr. Ackermann, wird im Dokumentarfilm "Blue End" die Geschichte dieser bis anhin einmaligen Zusammenarbeit von Justiz und Wissenschaft aufgerollt. Jernigan, der bereits zweimal wegen Einbruchs gesessen hat, tötet bei seinem letzten Einbruch in eine Villa den Hausbesitzer, der überraschend auftaucht, und wird von seiner damaligen Frau an die Polizei ausgeliefert. Da ihn die 12 Geschworenen sowohl des vorsätzlichen Mordes für schuldig befinden als auch in Zukunft als Gefahr für die Gesellschaft einstufen, wird er zum Tod verurteilt. Der Gefängnispfarrer legt ihm und anderen Todeskandidaten nahe, ihre Körper der Wissenschaft zu vermachen, um dadurch wenigstens im Tod der Menschheit dienlich zu sein und eine Erlösung von ihren bestialischen Taten zu erlangen. Jernigan ist einverstanden, aber weder er noch der Pfarrer oder Richter und Anwälte wissen, was konkret mit seinem Körper geschehen wird. Über verschlungene Justizkanäle des Staates Texas gelangt der Körper an ein bekanntes Medical Research Centre in Denver, Colorado.

Die Angehörigen Jernigans, die angenommen hatten, dass der Körper ihres Bruders und Mannes der Organspende dienen würde (was nach der Todesspritze nicht möglich ist), haben es bis heute nicht verarbeitet, dass sie vom Toten nicht gebührend Abschied nehmen konnten und er zum öffentlichen "Visible Man" wurde. Sein Bruder, der bei der Vollstreckung dabei war, durfte ihn vor seinem Tod bloss durch eine Scheibe sehen und nicht mehr berühren. Er hat es bis jetzt nicht geschafft, seinen Bruder im Internet zu betrachten.

Wenn Dr. Spitzer durch die labyrinthischen Gänge des Forschungszentrum schreitet und an unspektakuläre aussehenden Instrumenten den Vorgang des Hobelns, Schneidens und Fotografierens erklärt, über die Problematik des Einfrierens und Auftauens und unterschiedlicher Schichtungen von Muskeln und Knochen spricht, kann man sich eines Fröstelns nicht erwehren. Sein Universum der absoluten Wissenschaftshörigkeit scheint ethische und menschliche Fragen gar nicht erst zuzulassen. Der selbstgerechte, gottesfürchtige Richter seinerseits ist überzeugt davon, dass Jernigan so oder so in der Hölle schmoren würde, ob er nun nach lebenslanger Haft gestorben wäre oder die Todesspritze erhielt – was für ihn eine Diskussion der ganzen Angelegenheit erübrigt.

Ob Zeugenaussagen, Ausschnitte aus sensationshungrigen, amerikanischen Medizin-Sendungen oder anatomische Bilder, "Blue End" zeigt ein abstossendes und gleichzeitig faszinierendes Bild des Falles John Paul Jernigan und wirft grundsätzliche Fragen auf über Menschlichkeit, Ethik und über die globale Medialisierung am Anfang des 3. Jahrtausends.

Nachdem ein Grossteil der Fakten vorgestellt wurde, nimmt uns der Schweizer Regisseur Kaspar Kasics mit auf eine Reise durch den Körper Jernigans. Es hat perverserweise fast etwas Entspannendes an sich, wenn man mit den fliessenden, psychedelisch anmutenden Bildern durch das Gewebe, die Knochen und die Organe dieses Mannes gleitet, der unfreiwillig ein medizinisches Grossprojekt realisieren half und die beteiligten Forscher in den Mittelpunkt des weltweiten, wissenschaftlichen Interesses rückte.

15.02.2024

4

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