CH.FILM

Rekordjäger Belgien, Frankreich, Schweiz 1999 – 94min.

Filmkritik

Von Menschen und Tauben

Filmkritik: Gerhard Schaufelberger

Es gibt verschiedene Arten, Botschaften zu übermitteln. Die Brieftaube, deren einzige Botschaft darin besteht, zu beweisen, dass sie sich selbst ist und in ihre Heimat zurückgefunden hat. Oder die Nachrichten der Rubrik "Unfälle und Verbrechen" in einem Lokalblatt, in denen einer krampfhaft versucht, durch Manipulation des Bildmaterials und des Inhaltes wenigstens der einen oder andern Nebensächlichkeit ein wenig Dramatik abzugewinnen. Oder ein Yves- Saint-Laurent-Plakat, das aus einem Abfallhaufen heraus stumm zur Liebe auffordert, bis es von einem kleinen Mädchen hervorgezogen und als Wandschmuck verwendet wird.

Ein Tag wie jeder andere im bescheidenen Haushalt der Familie Closet. Vater Roger (Benoit Poelvoorde) hat seine innovativen fünf Minuten: Wie könnte er zu Berühmtheit kommen und zugleich materiell seinen Hausstand auf Vordermann bringen? Einen Weltrekord brechen zum Beispiel, und im gleichen Zug ein Auto gewinnen. Er blättert im Guinness-Buch und zitiert daraus einige komisch-absurde Beispiele. Kirschsteine-Weitspucken, Türen öffnen und schliessen, 40000 Mal pro Tag. "Das kann doch jeder, oder etwa nicht?" Unverständig hört die Familie zu. Verträumt klein Louise (Morgane Simone), gelangweilt und abgelöscht der Teenie Michel (Jean François Devigne), scheu und verständig aus Angst vor einem Tobsuchtsanfall die stille Mutter (Dominique Baeyens).Doch es gibt nichts zu rütteln. Roger Closet will die Berühmtheit und das neue Auto, koste es was es wolle. Herhalten muss der arbeitslose Michel, soll der Bengel sich gefälligst mal nützlich machen. Wenn er schon nichts arbeiten kann, wird er es doch wohl schaffen, eine Tür 40000 Mal in 24 Stunden auf und zu zu machen.

Es wird ein Trainer (Bouli Lanners) aus dem Freundeskreis engagiert, der sich aufs Boxen versteht und vor allem aufs Optimieren von Selbstvertrauen und Motivation, er hat viel gelesen über "amerikanische Methoden", und er wendet diese an seinem jugendlichen Versuchskaninchen schonungslos an. Im Hinterhof der Closets steht fortan eine Tür, die vom Freien ins Freie führt - Zufall oder Zitat des 1939 entstandenen Gemäldes "La victoire" von René Magritte?

Michels Fortschritte sind bescheiden, doch der Tag der grossen Show rückt näher und näher. Er muss auftreten, auch wenn von vornherein klar ist, dass er den Rekord nicht brechen wird. Umgekehrt wird er an seiner Aufgabe zerbrechen, wie man es sogleich geahnt und befürchtet hat. Für seinen Vater bleibt ein materielles und familiäres Desaster als Ergebnis seines kühnen Vorhabens. Der vielversprechende Sohn dreht durch und ruiniert in einem Unfall das Auto, das er hätte für seinen tyrannischen Vater erringen sollen; er liegt im Koma und will nicht mehr zu sich kommen; hat obendrein seine Freundin geschwängert und soll sie nun als Bewusstloser heiraten. Freilich spricht sein Vater für ihn das Jawort...Am Ende wollen die Ärzte den dahin vegetierenden Patienten von den Maschinen abhängen und ihn dem Schicksal überlassen.

Angst und Verzweiflung überkommen den Vater. Doch gerade diese Not schafft neue Beziehungen und Werte im Umfeld der Closets. Gezwungen, das Familiensilber zu versetzen, wendet sich Vater Roger, der plötzlich von jähzornigen Ekel zum kleinlauten Häufchen Elend verwandelt erscheint, an den sonst verachteten und verspotteten Nachbarn Felix. Ein Happy-End scheint unausweichlich. Dieses ist aber mit einem grossen Fragezeichen zu versehen. Zu steif und unwirklich klingt die Musik, zu der die Protagonisten am Wendepunkt des Jahrtausends auf die Gasse strömen und zu tanzen beginnen. Und nur weil der Kalender von vorn beginnt, heisst das nicht, es sei irgend etwas aus der Welt geschafft, und das Folgende sei zwingend besser als das Vergangene.Es ist ein kurzes Aufbäumen einer zaghaft dünnen Lustigkeit, ein kleines Intermezzo, nach dem das Elend der Arbeitslosigkeit, das Misstrauen gegen den Nächsten, die Verhöhnung dessen, der ein Bisschen anders ist, mit der gleichen Gewissheit zurückkommen werden wie der Frühling oder das Regenwetter.

Les convoyeurs attendent ist ein sarkastisches Possenspiel, gedreht in hartem Schwarz-Weiss, das der Banalität des dargestellten Elends gewiss eine poetische Note verleiht: Ein Gedicht über eine im Zerfall begriffene Industrielandschaft Walloniens, eine der ärmsten Regionen Europas, aber auch die Geschichte eines Cholerikers, der sich vor der ganzen Welt mit seinem Gezeter lächerlich macht und dennoch seine Familie gewaltsam bis ins Unerträgliche tyrannisiert. Es bleibt nicht dabei, dass der Zuschauer nüchtern und unbeteiligt dieses Szenengemälde betrachtet, ohne irgend etwas dabei zu empfinden. Poelvoorde verkörpert die Figur des jähzornigen Vaters auf so unausstehlich dominante Weise, dass man ihn unweigerlich hassen muss und am liebsten selbst in die Szene hereinplatzen möchte, um ihn in die Schranken zu weisen. Die Rollen der Kinder sind mit "echten" Kindern ohne schauspielerische Erfahrung besetzt. Verblüffend frisch und unverfälscht wirkt das Spiel der kleinen Luise, während gewisse Szenen mit den Teenagern Michel und Jocelyne sehr gekünstelt daherkommen. Die äusserst scharf, kontrastreich, beinah schon voyeuristisch wiedergegebene Liebesszene ist von einer derart peinlichen Holperigkeit im Dialog, dass diese Bilder auf Stills mit Sprechblasen reduziert eine regelrechte Teenie-Fotoromanza abgeben würden.

18.05.2021

3

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