Eyes Wide Shut Grossbritannien, USA 1999 – 159min.

Filmkritik

Odysseus und Penelope in New York City

Filmkritik: Martin Glauser

Stanley Kubrick hat sich immer an literarische Vorlagen von Weltrang gehalten, Nabakov, Burgess, Clarke und so. Sein letzter Film verlegt Arthur Schnitzlers "Traumnovelle" vom Wien der Zwanzigerjahre ins heutige New York. Man fährt Taxi statt Kutsche, doch zwischen Mann und Frau hat sich wenig geändert, und darum geht es: Tom Cruise und Nicole Kidman spielen im letzten Werk des letzten grossen Filmregisseurs das Paar, dessen Ehe an sexuellen Fremdbegierden und untreuen Phantasien erzittert.

Sie sind ein junges Paar, erfolgreich und glücklich, sogar im Bett. Je auf ihre Weise kommen aber in derselben Nacht beide in Berührung mit dem, was jenseits der trauten Zweisamkeit das von der Gesellschaft zurechtgestutzte Individuum reizen und bedrohen kann: das aussereheliche Begehren. Seine Eskapade wird für uns sichtbarer als ihre. Denn während sie zuhause von orgiastischen Szenen "nur" träumt, durchlebt er während einer Nacht eine ganze Reihe von Verlockungen. Auslöser der erotischen Odyssee bildet ein kleines Geständnis seiner Frau. An der Oberfläche bleibt er gefasst, doch unterirdisch verletzt ihn ihre Schwärmerei für einen Fremden so sehr, wie es tatsächlich praktizierte Untreue tun würde. Es ist der ewige Skandal des Mannes, dass die Frau im Geiste untreu sein kann, egal wie kontrolliert ihr Leben in der physischen Welt sich auch vollziehen mag.

Wege zur Orgie

Die Ereignisse des folgenden Nacht wirken wie für ihn inszeniert: Die Tochter eines Patienten (Marie Richardson) wirft sich ihm an den Hals; eine Strassendirne (Vinessa Shaw) lockt ihn auf ihr Zimmer; er stört ein Schäferstündchen zweier Herren mit der minderjährigen Tochter (Leelee Sobieski, toll!) jenes Kostümverleihers (Rade Serbedzija), der ihm die Verkleidungsutensilien für den unerlaubten Zutritt zu einem ganz besonderen Anlass verschafft: einer ritualisierten Orgie von hundert maskierten Reichen und Mächtigen in einem Schloss ausserhalb der Stadt. Der Doktor wird wirklich zum Odysseus, denn eigentlich ist er ja die ganze Zeit bloss auf dem Heimweg von einem Krankenbesuch, wie jener nach dem trojanischen Krieg undi wird dabei von dem versucht, was heute Kalypso, Kirke und Syrenen sind; das Abenteuer bringt ihn auch sonst in grosse Gefahr, und während seine Penelope scheinbar brav zuhause sitzt und mit dem Kind Hausaufgaben macht, wimmelt es in ihrem Kopf bereits von unverschämten Freiern wie damals auf Ithaka. Was den "listenreichen" Griechen mit dem modernen Menschen verbindet - und das gilt für alle Filme von Kubrick -, ist der mehr oder minder erfolglose Kampf des Individuums gegen den Ratschluss der Götter bzw. die Zwänge der Gesellschaft.

Der Stoff aus dem die Träume sind

Kubrick verfilmt Schnitzler geradezu akribisch werkgetreu, abgesehen von - und trotz - den eigenen Zutaten New York und Gegenwart. Der äussere Ablauf der Geschichte ist exakt derselbe, die Dialoge sind oft bis in die Interpunktion identisch, manche Namen wörtlich übersetzt. Werktreue zu einer Novelle der 20er-Jahre - das hat mancherorts der Meinung Vorschub geleistet, ein solcher Film könne nicht zeitgemäss sein, und Kubricks Abstinenz von allen weltlichen Trends habe sich hier gerächt. Tatsächlich haben manche Szenen ein ausgesprochen europäisches Kolorit, Tom Cruise erinnert manchmal mehr an Dr. Jekyll als an einen jungen New Yorker und die Orgie mehr ans 18. Jahrhundert als an die heitere, sonnendurchflutete Pornografie der 90er-Jahre. Aber wer würde von Kubrick diese Sorte von Realismus erwarten? Genauso gut hätte man ihn bitten können, sich endlich jene 2-Sekunden-Schnitte anzugewöhnen, mit dem Hollywood heute Tempo simuliert. Nein, auch in diesem Film herrscht die angespannte Ruhe des Kubrick'schen Kosmos, und so elegant er Raumschiffe durch den Sternenhimmel gleiten liess, genauso choreografiert der Meister auch nackte Frauenkörper vor der Kulisse der Ausschweifung. Auch "Eyes Wide Shut" hat jene irritierend harten Schnitte auf erhellte Räume, in denen erst einmal drei Sekunden lang nichts geschieht, und die Insistenz, mit der die Kamera anschliessend den Menschen langsam durch schön möblierte Zimmer und Korridore folgt. Reden die Figuren, lässt ihnen der Regisseur alle Zeit der Welt, womit er Nicole Kidman zur Performance ihres Lebens angetrieben hat. All diese Kubrick'schen Stilmittel eignen sich wie nichts, um die traumtypische Qualität der Vorlage auf den Film zu übertragen. Jede Szene scheint mit derselben Aufmerksamkeit gestaltet, und jede Szene hat dieselbe Intensität, mit welcher wir eine bestimmte Traumszene erleben, ohne uns weder an das Vorangegangene recht zu erinnern noch das vorauszuahnen, was folgen wird.

Digitale Nackedeis im Dienst der Selbstzensur

Archaische Langsamkeit kennzeichnete auch die äusseren Umstände der Produktion: 12 Jahre verstrichen seit dem letzten Kubrick-Film. Legendäre 15 Monate dauerte die Drehzeit, über ein Jahr die Postproduktion. Der gebürtige New Yorker wohnte seit 1961 in London, liess dort die Upper West Side nachbauen und drehte den Film quasi zuhause. Seine Ansprüche an Schauspieler und Crew sind berüchtigt, 60 Takes für eine Szene nicht selten. Kubrick starb am 8. März, drei Tage nachdem er den Warner-Bossen den ersten Blick auf "Eyes Wide Shut" gewährt hatte. Inzwischen hat Warner auf die US-Kopien ein paar weitere Nackte hineindigitalisisiert, um mit ihnen den Blick auf den einen oder anderen Fick zu verstellen. In Europa bekommen wir die unzensierte Fassung zu sehen. Aber Sie brauchen deswegen nicht die Hände vor die Augen zu halten, es ist keine Pornografie. Es ist Kubricks Film über die Liebe, in welchem er die Odysseen seiner bisherigen Filme um Penelope und Heimkehr nach Ithaca ergänzt. Hält man Kubrick für einen der grossen Skeptiker des 20. Jahrhunderts, muss man diesen Abgang irgendwie versöhnlich finden, und das sage ich nicht nur wegen Kidmans schönem Hintern. Auch die andern Frauen sehen alle wirklich toll aus.

25.01.2021

5

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Kommentare

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Markus1977BS1

vor 11 Jahren

Ein must-see der Kinogeschichte. Da ändert auch Tom Cruis nix dran, der zum Glück für den Film gut in diese Rolle passt.


movie world filip

vor 12 Jahren

muss man zwei mal schauen, das is komponiert... alles stimmt


djvan

vor 19 Jahren

Ein absolutes Meisterwerk


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