CH.FILM

Beresina oder Die letzten Tage der Schweiz Österreich, Deutschland, Schweiz 1999 – 108min.

Filmkritik

Der Angriff der Windmühlen

Filmkritik: Martin Glauser

Welche "bitterböse Politsatire" erwarten Sie in einem Land, dessen gesamte kritische Intelligenz sich seit 20 Jahren täglich an "Blocher" ermüdet und dessen erfolgreichste Humorleistung "Fascht e Familie" ist? Genau, Daniel Schmid (58) filmt eine Groteske, die Bankiers und Divisionäre als Lüstlinge demaskiert und ansonsten ihren Witz an Reisläuferei, Rütlischwur, Reduit und pensionierten Landesverteidigern erprobt. Mutig, mutig, liebe Brüder!

Diese Geschichte hat sich NZZ-Mann Martin Suter ausgedacht: Die Russin Irina (Elena Panova) kommt in die Schweiz, wo sie bald etliche hohe Herren aus Finanz und Politik ihre Freunde nennt. Dass sie eine Hure ist, weiss sie nicht, denn die Herren sind pervers, und ihre Vorlieben weichen zu sehr von dem ab, was Russinnen noch als Sex erkennen würden. Protegiert wird sie von der Kupplerin und Modeschöpferin Madame De (Geraldine Chaplin) und einem ambitionierten Anwalt (Ulrich Noethen) . Die naive Russin erhofft sich die Schweizerbürgerschaft, doch ihre beiden Freunde wollen sie nur benutzen, um an die Geheimnisse der mächtigen Klientel heranzukommen. Am Ende wird es dramatisch: Ungewollt deckt Irina einen Finanzskandal auf und weckt die Geheimorganisation "Kobra" aus ihrem Bereitschaftsschlaf. Die alten Geheimbündler vollziehen den Staatsstreich, um die Schweiz vor einer imaginierten inneren Bedrohnung zu retten.

Daniel Schmid ist mit zwölf ausgewachsenen Spielfilmen einer der gestandensten einheimischen Regisseure, bekannt als derjenige, der stets über die Landesgrenzen hinaus gefilmt hat, ein Napoleon des Schweizer Films sozusagen. Neu ist er im humoristischen Genre, und dieses erweist sich prompt als sein persönliches Beresina. "Mutig, Mutig, liebe Brüder", das Beresina-Lied, worin die Tapferkeit der Schweizer Söldner in Bonapartes geschlagenen Russland-Truppen besungen wird, bildet im Film einen Running Gag und das Codewort der Gruppe "Kobra". Während "Beresina" also für die Franzosen bloss Niederlage bedeutet, steht es im Schweizer Geschichtsbewusstsein für Durchhalteparolen in der Aussichtslosigkeit, für Grösse in der Niederlage. Und genau so kommt einem dieser Versuch vor, der Schweiz "endlich einmal eine Komödie über die Schweiz" (Schmid zu "Film") zu kredenzen: ein hoffnungsloses Fuchteln mit stumpfen Pointen, ein Rückzugsgefecht gegen einen überlegenen Feind: die Windmühlen der schweizerischen Donquichoterie.

Humoristischen Mehrwert versuchen Suter und Schmid hauptsächlich mittels dreier Verfahren zu erzielen. Erstens durch die Darstellung ausgefallener Sexualpraktiken. Hier fehlt kein Scherz, der nicht auch ins Repertoire von Kreti & Pleti gehört: Im S/M-Reissverschluss bleibt der Schnauz des Anwalts klemmen; während der Hundeleine-Nummer klingelt das Handy des echt veranlagten Bundesanwalts; der dominante Militär will doofe Rollenspiele in Uniform etc. Es ist falsch anzunehmen, dass sexuelle Devianz an sich schon Anlass zu Gelächter böte. Zweitens durch das Herunterleiern von Schweizer Klischee-Klischees. Schmid lässt den Divisionär (Martin Benrath) mit dem russischen Flittchen Rütlischwur und Tellsprung an den Originalschauplätzen nachstellen. Er steckt die Hauptfigur in Brättigauer Tracht und lässt sie "Margritli", "Lueget vo Bärge u Tal" und "Übere Gotthard flüge d'Bräme" intonieren, mit russischem Akzent und ein bisschen Sex Appeal. Er zitiert Bruder Klaus, das Reduit, den Bundesratsbunker unter den Alpen, diverse historische Schlachten und jene Heldenverehrung, die nach Ansicht der Autoren wohl 1999 die Klarsicht der Schweizer trübt. Daneben dürfen auch die modernen Klassiker Geldwäscherei und Fichen-Affäre nicht fehlen - und die restlichen der circa 15 Gemeinplätze, die der Schweizer Intelligenzia einfallen, wenn es darum geht, "die Schweiz" zum Objekt von Satire zu machen. Vor 40 Jahren mögen Patriotismus und Mittelaltermythen angemessene Zielscheiben von Gesellschaftskritik gewesen sein. Aber nach der erfolgreichen VerDRS3isierung des Schweizer Volkes wäre es Zeit, dass sich die gescheiten Leute einmal ein neues Set Feindbilder zulegen. Drittens durch Dialogwitz. Das klingt etwa so: Anwalt: "Ist das ein Zelt, was die Frau trägt?" - Modeschöpferin: "Das ist meine neue Kollektion! Naja, ein Zelt wäre besser, dann würde man wenigstens ihren Kopf nicht sehen."

Am Anfang des Nachspanns steht: "Mit Genehmigung der königlich-helvetischen Zensurbehörde". Ha, eher noch kommt Salman Rushdie in den Himmel des Propheten als "Beresina" in die Nähe einer Zensorenschere. Es gibt niemanden in diesem Land, dem Schmids Film mehr weh täte als das milde Tätscheln dieser charmanten Domina, die nicht einmal weiss, dass sie eine Hure ist.

19.02.2021

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Kommentare

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moveovercasanova

vor 13 Jahren

wie unangebracht der obige verriss ist, zeigt, dass kurz nach erscheinen des films ein tatsächlicher korruptionsskandal, gewürzt mit geldwäsche und prostituierten spitzeln, in der schweiz aufflog, der dem film so ähnlich war, dass der regisseur sogar in nachrichtensendungen eingeladen wurde, um aufzuklären, ob er davon wusste oder ob die ähnlichkeit zufällig sei.
der film ist sehr intelligent, lustig, die hauptdarstellerin spielt die russische schweizerin mit engelhafter anmut und die erwähnten musikeinlagen sind unglaublich bewegend, gerade weil sie so sparsam eingesetzt werden. ein film zum immer und immer wieder anschauen. keine längen, anspruchsvolleunterhaltung pur. *****Mehr anzeigen


jurei

vor 17 Jahren

schwarz, interessant, spezjell, beängstigend.


topas2511

vor 17 Jahren

herrvoragender film mit schwarzem humor und ganz typisch schweizerisch


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