Interview

Nadja Sieger: «Man darf nicht zum Star werden»

Stefan Gubser
Interview: Stefan Gubser

Gewöhnlich steht sie mit Haut und Haarteil auf der Bühne – das «Chline Gspängst» lebt nur von ihrer Stimme: Nadja «Nadeschkin» Sieger über das Synchronsprechen, Schreckgespenster und Joghurts.

Nadja Sieger: «Man darf nicht zum Star werden»

Sie glauben hoffentlich noch an Gespenster?

Ich habe Hirngespinste. Visionen und Ideen, die mich umkreisen. Manchmal landen sie, dann muss man sie umsetzen. Das kann allerdings lange dauern. Die aktuelle Rolle habe ich anscheinend bekommen, weil ich vor vielen Jahren mal in einer Runde von Filmleuten erzählte, dass ich gerne einen Kinderfilm synchronisieren würde. Im letzten Sommer klingelte dann endlich das Telefon und Alain Gsponer engagierte meine Stimme für S'Chline Gspängst.

Wann haben Sie Ihr letztes echtes Gespenst gesehen?

Ich bin nicht so der Horrorfilmschauer. Horror mag ich nicht.

Woher kommt der Horror vor dem Horror?

Der Mensch hat doch diese hübsche geniale Eigenart, ins Koma zu fallen, wenn etwas zu schlimm wird. Nach einem Unfall etwa, wenn die Schmerzen zu gross sind. Aber der Horrorfilm geht immer zu nahe drauf, ich kann nicht wegschauen und habe danach so blöde Horrorbilder im Kopf, die mir nichts geben.

In meiner Kindheit gab es ein tanzendes Gespenst am Fernsehen. Das habe ich geliebt! Ohne Füsse hat man natürlich schon nochmal ein ganz anderes Bewegungsrepertoire. (lacht)

Einer Figur bloss die Stimme zu leihen, wo Sie sonst immer mit Haut und Haar auf der Bühne stehen: Erfasst einen da nicht ein metaphysisches Gruseln?

Ich würde gerne öfters für den Film arbeiten. Weil ich es liebe, wenn meine Freiheit mal ein wenig eingeschränkt ist.

Ist Ihre Kunstfigur Nadeschkin ein Gespenst, das Sie immer mal wieder verscheuchen müssen?

Nein. Nadeschkin ist eine klassische, eine gewachsene Clownfigur. In der Komik hat man eigentlich keine Wahl, man entwickelt seine Figur aus sich selbst heraus. Man ist ja auch nicht lustig, wenn man zu jung ist. Als Kind schon, aber auch nur, weil man es noch nicht besser weiss. Clowns hingegen, die wiederholbar lustig sein können, sind meistens über 30. Dazu braucht es Reflexion. Man muss das Leben beobachten können. Komik braucht eine gewisse Reife.

Hilft Ihnen die Kunstfigur Nadeschkin, als Nadja Sieger unsichtbarer bleiben zu können?

Als ich mir nach 14 Jahren vor 7 Jahren meine Dreadlocks abschnitt, wurde ich auf der Strasse deutlich weniger erkannt. Ich versuche auch, Promi-Anlässe zu meiden. Als Clown muss man auf dem Boden bleiben, nahe beim Publikum, man darf nicht zum Star werden. Clownfiguren sind unfertige, fehlerhafte Geschöpfe, die viele Brüche haben. Deswegen sind sie den Leuten auch so nahe.

Ist also der Erfolg Gespenst, das Sie verfolgt?

Es gibt einen einfachen Dreh, den wir bei Ursus & Nadeschkin oft anwenden: Wir gehen einfach ins Ausland, wo man uns nicht kennt.

Zur falschen Zeit am richtigen Ort sein, wie das kleine Gespenst es vormacht. Das gewohnte Umfeld auch mal in einem anderem Licht betrachten wollen – bei Tage statt immer nur in finsterer Nacht: Ist das auch ein Anspruch Ihrer Kunst?

Nein. Die Kunst ist immer dann gut, wenn man da ist, wo man hingehört. Das Problem vieler Menschen ist doch, dass sie jemand anderer sein wollen, als der Mensch, der sie sind wären. Deswegen rennen sie einem Bild hinterher, statt sich mal bei sich selber umzuschauen. Auch das kleine Gespenst merkt doch am Schluss, wie sehr ihm eigentlich lieb ist, was es vorher hatte. Als Künstler will man immer anders sein. Und gleichzeitig wünscht man sich nichts sehnlicher, als genau gleich zu sein wie alle Anderen. Das ist wohl auch das Grundthema dieses Films – ein schönes.

Angenommen, Sie besässen diesen magischen Schlüsselbund, mit dem das kleine Gespenst verschlossene Türen öffnet, indem es rasselt: Wo würden Sie sich gerne Zutritt verschaffen?

Dieser Schlüsselbund ist für mich eher ein Sinnbild dafür, dass der Weg offen ist. Einem Kind stehen ja noch alle Türen offen. Älter werden heisst hingegen, dass einem sich einige wieder verschliessen. Es gehen neue Türen auf, aber in der Regel weniger als am Anfang offen gestanden haben. Wir Erwachsenen denken immer, die Freiheit sei das Grosse und Gewaltige im Leben. Dabei ist sie eines der Hauptprobleme unserer Gesellschaft. Wenn man 20 Joghurts zur Auswahl hat, weiss man am Schluss wirklich nicht mehr, worauf man Lust hast. (lacht) So gesehen ist eine etwas kleinere Freiheit gar nicht so schlecht.

Sie waren also auch nicht masslos unterfordert, weil Sie nur eine Rolle eingesprochen haben, die Sie sich nicht eigenhändig auf den Leib geschrieben haben.

Man hat eigentlich immer die Sehnsucht nach dem, was man am wenigsten tut. Freiheiten, mit Freiheiten umgehen – das habe ich als Nadeschkin nun wirklich zur Genüge. Ich wünsche mir manchmal jemanden, der mir sagt: «Jetzt gehst du hier durch und dann links.»

Sie sagen von sich, Sie seien schon als kleines Mädchen besser mit Jungs klar gekommen. War das mit ein Grund, dass Sie zu einer Clownin werden konnten?

Unbedingt. Das ist eine sehr geradlinige Entwicklung.

Man sagt ja: Humor spielt unter Frauen eine andere Rolle als in der Männerwelt.

Das sehe ich komplett anders. In Europa wird einfach gerne diese These zementiert, dass die Frauen weniger Humor hätten als Männer.

Nicht weniger. Die Vermutung wäre: Der Humor spielt eine andere Rolle in der Kommunikation.

In Amerika, wo das Filmbusiness wichtiger ist als das Theater, gibt es mindestens so viele Komikerinnen wie Komiker. Tatsächlich ist es so, dass bei klassischen Stoffen die Helden meistens Männer sind, weil die die Ellbogen besser einsetzen. Aber in den USA würde man nie den Unterschied machen und behaupten, Humor sei nur ein männliches Feld.

Aber es gibt doch nur männliche Stand-up-Comedians – von Sarah Silverman mal abgesehen.

Stand-up-Comedy geht sehr oft unter die Gürtellinie. Dort haben die Männer vielleicht ein grösseres Problem als die Frauen. Deshalb müssen sie das viel stärker thematisieren. Kommt dazu: Clowns und Komiker müssen ein gewisses Alter haben: Man ist meist schon über 30, bis man mit diesem Beruf wirklich Geld verdient wenn man anfängt komisch und selbstironisch zu werden. Das ist genau dann, wenn sich die Frauen – und eben auch die Komikerinnen – überlegen müssen, ob sie eine Familie gründen wollen.

Trotzdem haben Sie gesagt: Es gibt eine direkte Linie von Ihrer Bubenkindheit zu Nadeschkin.

Ich wollte nie eine Familie haben. Und ich bin bei meinem Vater aufgewachsen, ich hatte wenige weibliche Vorbilder. Ich war sehr aktiv, wahnsinnig lebendig. Aus heutiger Sicht hätte man mir damals sicher Ritalin verschrieben. Ich durfte viel machen, mir sagte selten nie jemand: «Jetzt reicht's!»

Jetzt haben Sie aber eine Familie, seit bald drei zwei Jahren sind Sie Mutter eines Sohnes.

Das mit dem Kinder kriegen hatte bei mir einfach auch ganz viel mit dem richtigen Mann zu tun. Ich bin spät Mutter geworden, was ich bedauere. Aber gewisse Dinge kann man einfach nicht beeinflussen.

Stellt Ihr Bub auch schon Fragen?

Er hat viele Fragen. Aber oft versteht er die Antwort noch nicht. (lacht)

18. September 2013

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