Interview

«Eine Genugtuung, aber kein Triumph»

Stefan Gubser
Interview: Stefan Gubser

70 und kein bisschen wandermüde: Franz Hohler besteigt seinen Hausberg, Tobias Wyss begleitet ihn mit der Kamera. Ein langes Gespräch über Perfektionismus, Vergesslichkeit und Eitelkeitsrituale.

«Eine Genugtuung, aber kein Triumph»

«Wie war schon wieder / der Titel des Films / in dem ein Planet / die Erde bedroht», fragen Sie im Prosagedicht «Alt?», das Sie sich zu Ihrem 70. Geburtstag geschenkt haben: Ist Ihnen die Antwort in der Zwischenzeit eingefallen?

Franz Hohler: «Malinconia». Oder «Melancholie»?

Sie sollen doch dieses fantastische Gedächtnis haben?

Franz Hohler: Man behauptet es. Mein letzter Film war, jetzt suche ich schon wieder einen Titel. (lacht) Er heisst eben nicht «Grand Hotel Budapest».

The Grand Budapest Hotel?

Franz Hohler: Ich habe auch Der Goalie bin ig gesehen. Sehr schön. Gerne hätte ich mir auch Das merkwürdige Kätzchen angeschaut, aber den Film habe ich verpasst.

Tobias Wyss: Mir ist zuletzt Touch of Sin nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Der Wes Anderson hat mir auch gefallen. Wobei mir da seine Pfadfinder in den Weg kamen.

Moonrise Kingdom?

Tobias Wyss: Mir gefällt die kleinere Form besser, wenn's bei Wes Anderson so richtig ausartet.

«Und die Schauspielerin / die den Jungen beschützte / wie hiess sie doch gleich?» Noch eine Frage aus «Alt?», die wir am besten gleich klären?

Franz Hohler: Der Name fällt mir jetzt nicht ein – das ist die typische Vergesslichkeit des Alters. Aber es ist mir auch nicht so wichtig, wie sie heisst.

Wie halten Sie es mit der Genauigkeit, wenn Sie Spaziergänge und Wanderungen zu Geschichten verdichten? Sie pflegen unterwegs keine Notizen zu schlagen.

Franz Hohler: Wenn ich über etwas Erlebtes schreibe, wähle ich aus dem aus, was mir hängen geblieben ist. Weil ich denke, was mir noch in den Sinn kommt, ist offenbar erwähnenswert. Und was mir nicht mehr einfällt, kann ich bleiben lassen.

Auch wenn Sie auf Strassen unterwegs waren: Mit Ihrem Off-Roadmovie machen Sie den Säntis zum Hausberg von Zürich-Oerlikon. Eine etwas vermessene Art, die Schweiz neu zu vermessen?

Franz Hohler: (lacht) Der Säntis ging mir immer wieder durch den Kopf, weil er der einzige Berg ist, den ich von mir daheim aus sehen kann. Und ich hatte schon lange vor, ihn zu besteigen: zu Fuss und von zu Hause aus.

Endlich auf diesen Säntis! Oder: Machen, was man immer schon tun wollte. Sie scheinen jemand zu sein, der sich an langen Listen und grossen Zielen abarbeitet?

Franz Hohler: «Was du gut findest, musst du tun.» Mein Credo steht im Text «Der Vater meiner Mutter». Ich habe viele, teilweise auch blödsinnige Sachen gemacht, die einen grossen Aufwand verlangten – genau aus dieser Überzeugung. So ein Projekt war auch der Säntis.

Man kann aber auch nach Paris fahren und gleichwohl nie richtig in Paris sein – Peter Bichsel hat es in seinem Geburtstagsfilm Zimmer 202 vorgemacht. Müssen manche Orte nicht Räume der Imagination und Fantasie bleiben dürfen?

Franz Hohler: Das fand ich auch sehr schön: Bichsel bleibt Paris-Verweigerer! Die Symbolik seines Films ist ja auch: Wo du auch hingehst, du bleibst immer in deiner Welt.

Sie bezeichnen Franz Hohler im Film einmal als «fast perfekt». Bei aller Freundschaft und Ironie, Herr Wyss: War für die kritische Distanz kein Platz mehr im Rucksack?

Tobias Wyss: Ich nehme Franz als präzisen und treuen Menschen wahr, während ich häufig ein wenig ungenau durch die Welt gehe. Der Film lebt unter anderem von unserer Verschiedenheit. Das war für mich eine gute Voraussetzung. Hinzu kommt, dass ich in einem Film vieles – auch kritische Distanz – zwischen den Bildern ausdrücken will. Man muss wissen: Wir dachten eigentlich, wir gehen einfach auf den Säntis, und das ist der Film, es waren keine dokumentarischen Rückblenden eingeplant. Aber sämtliche Kommissionen fanden, so könne man einen gesellschaftspolitisch relevanten Schriftsteller nicht porträtieren.

Franz Hohler: Gut ist, dass man sofort sieht, dass Perfektionismus nicht immer funktioniert. (lacht) Der Perfektionist wüsste natürlich, dass er bis zu der Abzweigung zurückgehen muss, die er verpasst hat. Aber das mache ich so ungern.

Wie sehr spielen Sie Franz Hohler, der eine Wanderung macht, wenn Sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit den im Schweizer Sackmesser eingelassenen Höhenmesser justieren?

Franz Hohler: Es war mir klar, dass das eine Reise unter Beobachtung ist. Und ich wusste immer: Wenn ich mich an Tobias wende, wende ich mich auch ans Publikum, das zuhört. Das ist auch bei jedem Interview so.

Tobias Wyss: Die Szene, in der du die Lady-Di-Geschichte erzählst, finde ich jedes Mal atemberaubend – das ist ein Tanz auf dem Hochseil. Da lässt du ziemlich viel von dir erkennen.

Klatschen wir rasch: Hatten Sie eine Schwäche für Lady Di?

Franz Hohler: Nicht mehr als für alle Frauen, die im Rampenlicht stehen. Eine verrückte Rolle! Ich bewundere auch viele Filmschauspielerinnen. Die Mischung aus Schönheit und Präsenz hat etwas sehr Anziehendes. Und Lady Diana war eine durchaus anziehende Frau. Von irgendwoher kam ja auch diese Fantasie. (lacht) Du hättest mir aggressivere Fragen stellen können, Tobias. Aber das war nicht die Stimmung dieser Wanderung.

«Erzähl mal von deinem ungelebten Leben!» Die heikleren Fragen stellen Ihnen Ihre Söhne.

Franz Hohler: Da kam ich ein wenig ins Schleudern. Tatsächlich möchte ich nicht zu viel von mir preisgeben. Es gab auch Leute, die sagten, sie hätten gehofft, mehr über mich zu erfahren.

Weshalb haken Sie so gut wie nie nach, Herr Wyss?

Tobias Wyss: Meine Filme leben von Zwischentönen. Hinzu kommt, dass Zum Säntis! als eine Art Roadmovie nicht auf Interviews aufgebaut ist. Schliesslich war ich gleichzeitig Regisseur, Begleiter und Kameramann und habe meine Energie auf unser gemeinsames Wandern konzentriert.

Was erstaunt: Der Film soll schwierig zu finanzieren gewesen sein?

Tobias Wyss: Das hatte viel mit meinem Ansatz zu tun. Von einem Film über Franz Hohler wird einfach erwartet, er arbeite die letzten 40 Jahre Schweizer Geschichte auf.

Franz Hohler: Zum Trost: Auch Zimmer 202 hat kein Geld vom BAK bekommen. Ich gehe mit Peter Bichsel, der sich rühmt, noch nie in Paris gewesen zu sein, nach Paris, um herauszufinden, was passiert? Ich verstehe nicht, was man an diesem Konzept auszusetzen hat.

Tobias Wyss: Ich schon: 95 Prozent der Porträts sind vom Fernsehen produziert. Porträts kann man im freien Film fast nicht mehr machen.

Es war also keine späte Rache von Bundesbern an zwei Schweiz-kritischen Schriftstellern?

Franz Hohler: Nein. In diesen Kommissionen sitzen nicht primär Bundesbeamte. Oder Leute, die sich als Bewahrer unseres Staates sehen.

Ein Film zum 70. Geburtstag: Schmeichelt das auch der Eitelkeit, die wohl auch einem Franz Hohler nicht ganz fremd ist?

Franz Hohler: Jeder, der sich dafür entscheidet, als Künstler zu leben, braucht Selbstvertrauen und Eitelkeit. Es braucht Arroganz, um zu sagen: Was ich mache, ist gut. Davon geht man aus. Es kommt auf das Mass an.

«Gerade die Humoristen / sagt man doch / seien todkranke Menschen / oder todernst eher», heisst es in einem Ihrer Texte. Wie viel Humor braucht man, um 70 Jahre alt zu werden?

Franz Hohler: Es war nicht schwierig. (lacht) Wenn man gern lebt, kann man auch relativ fröhlich 70 werden. Man hat ja immer das Gefühl, das Alter sei die Epoche der Langsamkeit. Aber umgekehrt kann man sagen, das Alter ist die Epoche des rasenden Tempos. Eben 70 geworden – und schon ist man 71!

Langsam gehen: Das ist vielleicht das Hohler'sche Grundgesetz?

Franz Hohler: Zu Fuss gehen. Wenn immer möglich die langsamere Art wählen. Wenn's nicht pressiert, gehe ich zu Fuss eine Treppe hoch und denke dabei an die Berge.

In «langsam gehen» schwingt aber auch das Abschied nehmen mit. Was viele Leute nicht wissen: Sie treten zum Beispiel seit Jahren nicht mehr als Kabarettist mit Cello und «Totemügerli» auf.

Franz Hohler: Das habe ich gemacht, in Ordnung, brauche ich in dieser Form nicht mehr, ich konzentriere mich aufs Schreiben und auf Lesungen. Das reicht mir als Bühnenpräsenz oder Eitelkeitsritual. (lacht) Wenn ich in der alten Mühle Attiswil eine Lesung habe und es kommen noch 100 Leute, denke ich: Das reicht.

Tobias Wyss: Du lässt dich nicht ablenken, Franz. Wenn ich wieder lange an einem Film gearbeitet habe, aber am Schluss schauen ihn sich nur 900 Leute an, dann würdest du sagen: „Ist doch egal!“ Im Alter muss man sich viel genauer überlegen: Was mache ich jetzt? Was traue ich mir zu? Das ist anders als mit 40 oder 50, da macht man mal und schaut, was passiert. Auch die Ernsthaftigkeit, mit dem Archiv umzugehen, ist so ein Thema.

Zum Säntis! beginnt mit einem Besuch des Schweizerischen Literaturarchivs, Franz Hohler packt Kinderzeichnungen in eine graue Kartonschachtel. Wie früh war Ihnen bewusst, dass jeder Einkaufszettel zählt?

Franz Hohler: Meine Grossmutter hat mir erzählt, ich hätte mit etwa acht gesagt, ich wolle Dichter und Zeichner werden. Ich habe immer gern gezeichnet und Verse geschrieben. Das war auch wichtig für mich, als ich Berufsfussballer und Buschauffeur werden wollte.

Welche Rolle haben Kunst und Kultur in Ihrer Kinderstube gespielt?

Franz Hohler: Ich habe Kultur als etwas erfahren, das gelebt wurde. Meine Mutter war Geigerin. Mein Vater war Lehrer, hat aber in der «Dramatischen Gesellschaft Olten» Theater gespielt. Er war ein grosser Leser, besass viele Bücher, ich habe mich schon als Kind in seiner Bibliothek bedient. Meine Eltern hatten Freude, als ich anfing, Kurzgeschichten zu schreiben. Aber dann kam der Schrecken Studienabbruch. Das war ein echter Schrecken damals, weil mein Vater mir etwas ermöglichen konnte, was er auch gerne gemacht hätte.

Sie haben nicht dem Wunsch des Vaters entsprochen, spielen aber das Violoncello Ihres Grossvaters, das dieser nicht spielen konnte. Sind das die geheimnisvollen Linien, die das Leben vorzeichnet?

Franz Hohler: Der Vater meiner Mutter, ein Verdingkind, das aber das Technikum machen konnte, fand mit 42: Jetzt mache ich noch etwas für mich und lerne Cello spielen. Er hat sich bei einem guten Geigenbauer ein Cello bestellt und ist damit beim Lehrer anmarschiert. Aber der beschied ihm, seine Finger seien zu klein. Mein Grossvater hat das Cello in eine Ecke gestellt und abbezahlt: Das ist eine schöne Linie: Ich kann etwas verwirklichen, das er nicht konnte.

Die Wirklichkeit Ihrer Söhne, wie der eine sie im Film zeichnet: Man macht mit Ihnen eine Bergtour, und schon beim nächsten Besuch liegt sie als Manuskriptseite auf dem Küchentisch. Sie schöpfen gerne aus dem Alltag: Wo verläuft die Grenze zwischen öffentlich und privat?

Franz Hohler: Dieser Geschichte über die Besteigung des Gallenstocks ist zu entnehmen, dass wir zu dritt waren; es steht aber nirgends, dass einer meiner Söhne dabei war. Ich bin sehr zurückhaltend. Das war anders, als die Kinder kleiner waren.

Wo Sie Kultur als etwas Gelebtes erlebten: Wie stehen Sie zur Sprachkultur der Jugend von heute? SMS, WhatsApp und Kollegen: Das sind ja auch digitale Poesie-Maschinen des Alltags?

Franz Hohler: Wir hatten noch Ausdrücke wie «tschent». Oder: «Do gohsch abe wie ne heisse Chäs.» Letzthin war eine lustige Nummer im «TagiMagi» über die Jugendsprache: «Das fühl i.» Das ist jetzt «es gfühlts Sandwich». Sehr lustig sind auch die Anglizismen wie «chille». Ich bin keiner dieser Sprachpuristen, die dauernd mit Warnflaggen winken und sagen, die Sprache geht verloren. Verrückt ist ja auch, wie unsere jungen Rocker alle Mundart singen und damit durchkommen. Auch die Rapper, die Slam-Poeten.

Empfinden Sie das, als früher Apologet der Mundart, auch als eine späte Genugtuung? Auch in Sachen Atomkraft hat der Wind ja gedreht: Neuerdings ist eine Mehrheit gegen jene AKWs, vor deren Gefahren Sie schon vor 40 Jahren warnten?

Franz Hohler: Es ist schön, wenn man sieht, dass das, was man immer kritisiert hat, einen Wahrnehmungspegel erreicht hat, der den Namen verdient. Jahre später kommt etwas als real an, wenn auch meistens auf Druck aus dem Ausland. Das ist auch sehr typisch für die Schweiz. Eine Genugtuung ist es, aber es ist kein Triumph.

Tobias Wyss: Ich muss etwas nachschicken. Es gab ein Büchlein von Franz, «40 vorbei». Mir schien, das könnte ein roter Faden durch unseren Film sein, ich habe die Idee dann aber fallen lassen. In diesen Gedichten hab ich etwas gefunden, was ich lange auch auf Franz projiziert habe – nicht nur ich. Sie stammen schon aus einer Zeit, in der schwarz und weiss so klar unterscheidbar war, wie ich es heute nicht mehr erlebe.

Stellt sich die Frage: Liegt es an Ihrer Altersmilde, einer veränderten Wahrnehmung, oder ist die Welt eben doch ein bisschen besser geworden?

Franz Hohler: Für mich ist ganz klar, dass wir aus einer sehr engen Welt kamen. Aus einer Welt ohne Frauenstimmrecht. Eine Frau brauchte die Einwilligung des Mannes, wenn sie ein eigenes Bankkonto eröffnen wollte. Man hat an unglaublichen Hierarchien festgehalten. Das ist mal das Eine. Aber auch die ganze Art sich anzuziehen. Wenn ich nur an die Knickerbockers denke!

Die sind doch nicht schlechter als diese keck-bunte High-Tech-Outdoor-Kleider, die gegen hundsmiserable Bezahlung in Bangladesch produziert werden?

Franz Hohler: Aber die Knickerbockers waren mit einer Haltung verbunden. Das ganze Erziehungswesen, die Verdingkinder, Kinder der Landstrasse: Das sind alles Geschichten, die während unserer Kindheit passierten und auf einer grausigen Moralvorstellung beruhten. Auch der Umgang mit Grenzen: Nationalität ist einfach durch den Umstand der weltweiten Migrationsbewegung zu etwas anderem geworden. Das Gegenteil von Enge: Das ist schon auch eine Nebenwirkung des Internets.

Wobei der Blick heute auch wieder beklemmend eng sein kann. Der Mensch als wischender Däumling, der in jeder freien Sekunde auf den Bildschirm seines Smartphones starrt?

Franz Hohler: Es gibt beide Bewegungen. Ich denke aber, irgendwann leben die Leute wieder analoger. Ich selbst bin nicht auf Facebook oder Twitter. Niemals würde ich das tun.

Das Twittern würde Ihnen aber liegen?

Franz Hohler: Durchaus. Aber es gibt wieder Reaktionen. Und ich ertrinke jetzt schon in Reaktionen. Ich brauche nicht mehr Kommunikation.

Wir sind auch schon am Ende: Wie wird der Film zu Ihrem nächsten runden Geburtstag?

Franz Hohler: In Zum Säntis! spielt meine schweizerische Vergangenheit eine grosse Rolle. Es wäre sicher auch ein ganz anderer Film möglich. Aber den müsste vielleicht ein Deutscher drehen. Der Säntis liegt nun mal in der Schweiz.

26. Juni 2014

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