Interview

Schweizer Flüchtlingsdrama: «Es war fast beschämend, mit unserer teuren Ausrüstung dort zu drehen»

Interview: philipp dahm

Die Kurzfilmtage Winterthur gehen auf Kurzfilmnacht-Tour durch die Schweiz: Beim Auftakt am Freitag in Bern steht auch «Bon Voyage» auf dem Programm. Regisseur Marc Wilkins sprach mit uns über die Dreharbeiten zu Wasser, das Thema Flüchtlinge, seine (kulinarische) Heimat und den Traum vom Oscar.

Schweizer Flüchtlingsdrama: «Es war fast beschämend, mit unserer teuren Ausrüstung dort zu drehen»

Der Trailer von «Bon Voyage».

«Bon Voyage» hat es auf die Oscar-Shortlist der zehn besten Kurzfilme 2017 geschafft. Waren Sie enttäuscht, dass ihre Arbeit am Ende nicht auch unter den fünf Nominierten war?

Es auf die Shortlist zu schaffen war schon so ein Traum und so ein Geschenk … Obwohl Traum es nicht trifft: Ich hätte ja nie gedacht, dass wir so weit kommen werden. Das war einfach grossartig! Aber ich finde, dass der Film, der gewonnen hat, eine tolle Geschichten erzählt – insofern war ich nicht enttäuscht, aber ich habe mich schon gefragt: Was wäre wenn? So ein Oscar-Gewinn ist ja etwas, was dein Leben verändert.

Der Trailer des Kurzfilm-Oscar-Gewinners «SING».

Aber auf der Shortlist zu stehen, ist ja auch schon was: Melden sich dann Leute bei einem, von denen man seit Ewigkeiten nichts gehört hat?

Nein, so krass war es nicht, aber dafür haben sich einige Studios und Agenten gemeldet. Allein schon um Kontakt herzustellen, falls man wirklich nominiert ist.

Waren Sie denn bei der Verleihung?

Nein, das nicht. Ich war zwar nicht enttäuscht, aber zur Gala zu gehen, hätte dann doch wehgetan. Aber es gibt noch so viele Filme, die ich machen will: Vielleicht klappt es ja bei einem anderen Projekt.

Auf anderen Filmfestivals wurde «Bon Voyage» dafür mit Lob und Preisen überhäuft: Ist er ihr erfolgreichster Film?

Ja, aber es ist nicht nur meine erfolgreichste Arbeit was das angeht, sondern kommt auch der Art von Kino am nächsten, auf die ich Filme machen will.

Die Geschichte handelt von Schweizer Seglern, die im Mittelmeer auf ein Flüchtlingsboot treffen: Wie filmt man auf dem Wasser?

Die Grundlage bildeten die Segelyacht der Hauptfiguren, es gab es ein grosses Begleitschiff, auf dem Catering und Aufenthaltsraum waren, und ein Zodiac, das als Shuttle zwischen den beiden eingesetzt wurde. An den grossen Drehtagen waren acht Schiffe im Einsatz – darunter ein Lichtschiff, zwei Security-Boote, ein weiteres Shuttle, ein Schiff mit Kamerakran … Es war schon eine kleine Armada.

Gab es Probleme beim Dreh?

Ich segel selber sehr gerne und hatte ein Team zusammengestellt, das affin zum Wasser ist. Auch die Hauptdarsteller Stefan Gubser und Annelore Sarbach können segeln, aber trotzdem war es an den ersten Tagen so, dass – ich sage es frei heraus – viel gekotzt wurde. Wir hatten alle mit der Seekrankheit zu kämpfen, aber weil das Team mit Leidenschaft hinter dem Projekt stand, entwickelten sich alle zu Seebären und keiner wollte zurück an Land.

Wie lange dauerte der Einsatz vor Antalyas Küste?

Wir haben nahe des Taucher- und Fischerortes Kaş neun Tage gearbeitet. Wegen des Wetters wurden es zwei mehr als geplant. Die lokale Community dort hat uns hervorragend unterstützt. Sie kennen das Problem ja auch: Es hätte durchaus sein können, dass wir während der Dreharbeiten tatsächlich auf Flüchtlinge treffen. Es war absurd, fast beschämend, mit unserer teuren Ausrüstung dort einen Film zu drehen.

BON VOYAGE – About the Making-Of from Dschoint Ventschr Filmproduktion on Vimeo.

Das Making-of-Video von «Bon Voyage».

Heute gewinnt man den Eindruck, das Thema langweilt die Menschen: Haben wir in der «Flüchtlingskrise» unser Mitleid verloren?

Vielleicht haben wir es nie gehabt: Ich kann nicht glauben, dass überhaupt darüber diskutiert wird, ob wir Menschen, die ausgebombt werden, Asyl gewähren – vor allem, wenn es einem selbst so gut geht. Man ist des Themas müde geworden, obwohl heute noch so viele Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken: Seit dem Flüchtlingsdeal mit der Türkei bewegen sich wieder mehr Menschen auf der gefährlichen Route von der libyschen Küste Richtung Europa. Aber genau deswegen wollte ich auch einen Film machen, der unabhängig von dem Sozialpolitischen den Zuschauer auch unterhält.

Sie leben in Berlin: Wie haben Sie den Wandel im Verhältnis der Öffentlichkeit und Flüchtlinge erlebt?

Ich bin einerseits beeindruckt, wie offenherzig und unterstützend Deutschland Menschen auf der Flucht aufgenommen hat. Auf der anderen Seite gibt es Behörden, die unglaublich schlecht organisieren.

Zum Beispiel?

Wenn man sich bei uns bei einem Unfall den Kopf anschlägt, bekommt man eine Traumatherapie. Wenn aber die eigene Familie gefoltert wird oder im Bombenhagel umkommt, man über das Meer flieht und sieht, wie Leute ertrinken, durch Europa wandert und angegriffen wird und schliesslich in Deutschland landet, gibt es keine Traumatherapie. Man wird in eine Halle mit 400 Menschen gesteckt und darf dann noch nicht mal arbeiten und sich eingliedern. Aber durch die starren Gesetze wird es ihnen auch noch unmöglich gemacht, etwas zurückzugeben.

An «Bon Voyage» waren Flüchtlinge dagegen aktiv beteiligt.

Ja ich habe bei meiner Recherche für den Film in Istanbul eine syrische Flüchtlingsmutter kennengelernt, die fünf Kinder hat. Die jüngste, Hala, haben wir gecastet und ich habe mich noch gefragt: Darf ein echtes Flüchtlingskind im unschuldigen Alter ein Flüchtlingsmädchen darstellen? Wir haben dann auch professionelle Kinderschauspieler vorsprechen lassen, aber die hatten nicht die Energie, die wir gesucht haben. Und Hala hatte sie!

Wo ist Hala jetzt?

In Istanbul. Die Familie darf nicht zum Vater nachziehen, der im Allgäu lebt. Da verstehe ich Deutschland nicht. Ich halte mit Hala über die NGO Small Projects Istanbul Kontakt, die Flüchtlingskindern hilft, und werde sie auch in zwei Wochen in der Türkei treffen.

Sie sind in Bern geboren, viel herumgekommen und haben in den USA und Deutschland gelebt: Haben Sie sich selbst schon mal fremd gefühlt?

Ich bin mit diesem Gefühl aufgewachsen, es ist der Normalzustand. Und ich meine das nicht nur geographisch: Mein Stiefvater war Künstler in einem kleinen Dorf in Freiburg, in dem alle anderen als Winzer ihren Lebensunterhalt verdient haben. Ausserdem sind wir viel gereist. Aber als Filmemacher gibt dir das Fremdfühlen auch Gelegenheit, die Gesellschaft von aussen, quasi mit anderen Augen zu betrachten.

Minderheiten betonen im Ausland in der Regel ja ihre eigenen Wurzeln: Welche Schweizer Tradition pflegen Sie?

Vor allem die kulinarischen: Es klingt vielleicht komisch, aber im Winter mache ich oft Fondue und Raclette – egal wo ich lebe. Und ich backe immer wieder gerne Engadiner Nusstorte!

Am Ende schauen wir in die Zukunft: Was für Filmprojekte planen Sie aktuell?

Ich entwickle gerade zwei Spielfilme: Der eine heisst «The Saint Of The Impossible» und spielt in New York. Das zweite Projekt «The Electric Girl» ist in der Ukraine angesiedelt: Die Story dreht sich um ein junges Mädchen, das den Mord an ihrer Mutter aufklären will. Die vierte Drehbuchfassung steht und wir sind optimistisch, dass wir im Sommer in Kiew drehen können. «The Saint Of The Impossible» wollen wir im Sommer 2018 angehen.

23 mars 2017

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