Critique17. Januar 2023

Netflix-Kritik «Weisses Rauschen»: Vielseitige Gefühlswolken

Netflix-Kritik «Weisses Rauschen»: Vielseitige Gefühlswolken
© Netflix

Nach dem durchschlagenden Erfolg von «Marriage Story» geht die Reise von Regisseur Noah Baumbach mit «Weisses Rauschen» weiter. Die Netflix-Produktion sprengt jede Genre-Schublade und handelt von Familie, Liebe, Tod, Konsum, Katastrophen, Medienkonsum, Angst, dem Elfenbeinturm der Universität und vom modernen Amerika – und das alles gleichzeitig. Eine Kritik zum überbordenden Katastrophenliebesthrillerfilmnoir.

Jack (Adam Driver) und Babette (Greta Gerwig) haben sich gefunden. Nach mehreren gescheiterten Ehen haben sie nun eine eigene Patchworkfamilie gegründet und sind endlich glücklich. Doch der laute Familienalltag wird bald gestört, denn nach einem unglücklichen Zusammenstoss eines Zuges und eines Lasters werden plötzlich giftige Dämpfe frei, die die gesamte Nachbarschaft zur Flucht zwingen. Und auch Babettes heimliche Tablettenabhängigkeit hängt wie eine dunkle Wolke über dem Familienglück.

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«Show, don’t tell» lautet DIE Grundregel des Filmemachens und selten wurde sie so virtuos über Bord geworfen wie in «Weisses Rauschen». Noah Baumbach entscheidet sich stattdessen für eine überbordende Variante aus «Show AND tell and dance and tell some more». Der Film präsentiert eine wahnwitzige Gleichzeitigkeit von Ereignissen, Dialogen und Figurenentwicklungen, die überfordend sein könnte – wenn sie nicht so unterhaltsam wäre.

Sowohl der Familienalltag als auch Jacks Berufsumfeld in der Uni sind von überlappenden, gleichzeitig stattfindenden Gesprächen und Handlungen geprägt, die das Ganze zwar nicht leichter zu verstehen, aber dafür authentisch machen. Zu dem permanenten Dialog kommt ausserdem eine fast pausenlose Medienbeschallung mit Radio, Fernseher und Projektor hinzu, die die Aufmerksamkeit der Figuren fesselt – eine schöne Parallele zum Filmpublikum, aber auch eine realistische Darstellung des alltäglichen Informationsflusses.

«Show, don’t tell» lautet DIE Grundregel des Filmemachens und selten wurde sie so virtuos über Bord geworfen wie in «Weisses Rauschen».– Cineman-Filmkritikerin Maria Engler

«Die Familie ist die Wiege der Fehlinformationen in der Welt», wird zu einem Leitspruch des Films, der besonders wichtig wird, als die Katastrophe über die Stadt hereinbricht. In einer deutlich spürbaren Parallele zur Covid-Pandemie werden Informationen lebenswichtig und gleichzeitig zunehmend verwirrend. Plötzlich werden Lieder und Theaterstücke über die Katastrophe geschrieben und im Angesicht der Panik den Pfaden konservativer Waffennarren gefolgt. Bis die Gefahr plötzlich verpufft. Was nun? Business as usual?

Spätestens jetzt zerfasert der Film, der im Ablauf der Katastrophe noch so gradlinig wirkte, in unvorhersehbare Handlungsteile, die erst recht keiner Genrezuordnung mehr standhalten können. Halt bieten im zweiten Teil des Films vor allem die Gefühlswelten der Figuren, die Noah Baumbach (wie bereits in «Marriage Story» meisterhaft bewiesen) auf einzigartige und nachvollziehbare Weise abbildet. Sei es Angst um die Liebsten, Trauer über einen Verrat des Partners oder Wut – die Gefühle sind ein Anker in der surrealen Welt des Films.

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In «Weisses Rauschen» steht vor allem ein Gefühl im Vordergrund: die Angst vor dem Tod. Sie treibt die Figuren zu ihren eigentümlichen Handlungen an und ist auch immer wieder Gesprächsthema, manifestiert sich sogar in Form einer dunklen, giftigen Wolke am Himmel. Doch auch als diese verpufft ist, bleibt das Gefühl hängen und wird bis zum Schluss von allen Seiten beleuchtet.

Die Ästhetik des Films überschneidet sich auf wunderbare Weise mit seinem Inhalt und kommt sehr eigentümlich daher. Obwohl die Handlung in den 1980er Jahren angesiedelt ist, wirken die Bilder mitunter, als wären sie einem Paralleluniversum entsprungen, das irgendwie hübscher, aufgeräumter und gleichzeitig spleeniger ist als unseres. Hier werden deutliche Parallelen zu Wes Anderson sichtbar, die in einigen Szenen einer Hommage nahekommen.

Ein besonderer Ort des visuellen Verzückens ist der Supermarkt, der als Sehnsuchtsort und Konsumtempel inszeniert wird, in dem alles noch seine Ordnung hat. Jacks Kollege Prof. Murray Siskind (fantastisch: Don Cheadle) hält bei einer Einkaufstour einen minutenlangen Vortrag über den Supermarkt als transzendentalen Ort zwischen Leben und Tod – göttlich! Dass der Film dann auch sein fulminantes Ende im Supermarkt zelebriert, ist nicht nur konsequent, sondern auch ungemein sehenswert. Ein Filmende, das zweifellos in die Geschichte eingehen wird.

4 von 5 ★

«Weisses Rauschen» ist seit dem 30. Dezember 2022 bei Netflix zu sehen.

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