Critique19. Februar 2021

Amazon-Prime-Kritik «Wir Kinder vom Bahnhof Zoo»: Dem Rausch erlegen

Amazon-Prime-Kritik «Wir Kinder vom Bahnhof Zoo»: Dem Rausch erlegen
© Amazon Prime

Mit «Wir Kinder vom Bahnhof Zoo» legt Amazon eine moderne Neuinterpretation des gleichnamigen Tatsachenberichts aus dem Jahr 1978 vor, der in schockierender Deutlichkeit die Drogensucht der Jugendlichen, im damaligen West-Berlin lebenden Christiane Felscherinow beschreibt.

Serienkritik von Christopher Diekhaus

Nach seinem Erscheinen schlug das von Kai Hermann und Horst Rieck aus den Schilderungen der Teenagerin zusammengestellte Buch ein wie eine Bombe. Wohl nie zuvor wurde der Alltag junger Drogenabhängiger derart ungeschönt und detailliert nachgezeichnet. Der biografische, gleichermassen Abscheu und Faszination hervorrufende Report entwickelte sich zu einem Bestseller und kam nur drei Jahre später als «Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo» auf die grosse Leinwand. Heftige Reaktionen provozierte auch der von Uli Edel inszenierte Film mit seinen ungewohnt drastischen Bildern.

Headautorin Annette Hess («Weissensee») und Regisseur Philipp Kadelbach («SS-GB»), der alle acht Folgen der von Amazon beauftragten Produktion betreute, wollen den schwer verdaulichen Stoff nun einer neuen Generation nahebringen und fokussieren sich dabei, anders als die Kinoadaption, nicht nur auf Christianes Perspektive, sondern nutzen das Serienformat, um die wichtigsten Menschen in ihrem Umfeld ebenfalls auszuleuchten. Zu Beginn jeder Episode informiert uns eine Texttafel, dass einzelne Personen und Ereignisse fiktionalisiert oder frei erfunden sind.

In Erinnerung bleiben vor allem die ungeheuerlichen Erfahrungen Stellas.– Cineman-Filmkritiker Christopher Diekhaus

© Amazon Prime

Was sehr schnell auffällt: Amazons «Wir Kinder vom Bahnhof Zoo» hält sich mit allzu deutlichen Hinweisen auf die Verortung der Handlung zurück. Frisuren und Mode lassen auf die ausgehenden 1970er- und die frühen 1980er-Jahre schliessen. Verwendete Musiktitel stammen allerdings auch aus anderen Zeiten. Überdies stehen in den Dialogen altmodische Begriffe neben neumodischen. Der Grund für diese Bandbreite: Den Machern kommt es auf das universelle Wesen ihrer Geschichte an.

Nach einem nebulösen Einstieg, bei dem eine keck in die Kamera blickende Christiane (Jana McKinnon) an Bord eines Partyfliegers beschwichtigend auf einen durch aufziehende Turbulenzen beunruhigten Mann (Alexander Scheer) einwirkt, der Popstar David Bowie sein soll, springt die Serie zehn Jahre zurück und stellt uns Christiane als Jugendliche in einer Aussenseiterrolle vor. Während ihre Mutter Karin (Angelina Häntsch) und ihr Vater Robert (Sebastian Urzendowsky) häufig streiten, sucht das Mädchen Anschluss in der Schule und begibt sich in den Dunstkreis der selbstbewussten Stella (Lena Urzendowsky), deren Mutter (Valerie Koch) Alkoholikerin ist.

Mit Stella zieht es Christiane immer öfters in den legendären Berliner Nachtclub «Sound», wo sie in Axel (Jeremias Meyer), Benno (Michelangelo Fortuzzi) und Michi (Bruno Alexander) auf gleichgesinnte Feierwütige treffen, die ihre eigenen Probleme mit sich herumschleppen. Die Clique komplettiert schon bald die aus wohlhabenden Verhältnissen stammende, unter dem Tod ihres Vaters (Tonio Arango) leidende und gegen ihre Grossmutter (Hildegard Schmahl) rebellierende Babsi (Lea Drinda). Einige Mitglieder haben bereits Erfahrungen mit Drogen. Und so dauert es nicht lange, bis auch Christiane auf den Geschmack kommt. Als die Gruppe dem Heroin verfällt, nimmt ein Teufelskreis aus Abstürzen und Beschaffungsprostitution rund um den Berliner Bahnhof Zoo seinen Lauf.

Jana McKinnon und ihre Co-Stars vermitteln glaubhaft die Verlorenheit der Figuren und lassen die Anteilnahme nie komplett verfliegen.– Cineman-Filmkritiker Christopher Diekhaus

Wenngleich die Serie deutlich mehr Zeit als der Film zur Verfügung hat, erhalten nicht alle Protagonisten gleich viel Entfaltungsraum. Verhältnismässig wenig verraten die Drehbücher über den stillen Axel und den impulsiven Michi. Auch Babsi gerät, zumindest in der ersten Hälfte, manchmal aus dem Blickfeld.

In Erinnerung bleiben vor allem die ungeheuerlichen Erfahrungen Stellas, die von einem Kneipengast vergewaltigt wird, sich von ihrer Mutter dafür später verhöhnen lassen muss und in einem missbräuchlichen Verhältnis zu Tierhandlungsbesitzer Günther (Bernd Hölscher) steht. Einem Mann, der diversen Mädchen Unterschlupf und Drogen für sexuelle Dienste anbietet. Emotional aufwühlend ist nicht zuletzt die wie in einer Achterbahn von Auf zu Ab, von Rausch zu Rausch eilende Liebesbeziehung zwischen Christiane und Benno, denen mehrfach ein Leben ohne Herointrips vorschwebt. Die Suchtspirale tatsächlich zu durchbrechen, fällt ihnen jedoch unglaublich schwer.

© Amazon Prime

Dass die Serie stellenweise eine fiebrige Intensität erzeugt, ist besonders der starken Jungdarstellerriege zu verdanken. Jana McKinnon und ihre Co-Stars vermitteln glaubhaft die Verlorenheit der Figuren und lassen die Anteilnahme nie komplett verfliegen. Als Fehlgriff erweist sich dagegen die Besetzung von Christianes Vater. Für seine Rolle sieht Sebastian Urzendowsky zu jugendhaft aus. Und ausserdem kratzt seine Darbietung des verantwortungslosen Träumers Robert häufig an der Grenze zur Parodie.

Für das Gefühl des Drogenrausches findet «Wir Kinder vom Bahnhof Zoo» einige einprägsame, ins Surreale ausgreifende Bilder und schafft es, die wilde Energie der im Nachtclub unter Neonlicht abrockenden Meute in die heimischen vier Wände zu transportieren. Andererseits: Gerade weil die oft mit schnittiger Musik unterlegte Hochstimmung beim Heroinkonsum auf ästhetische Weise eingefangen wird, setzt sich die Serie stets ein wenig der Gefahr aus, die Abhängigkeit in ein positives Licht zu rücken. Die dramatischen Folgen der Sucht werden zwar hervorgehoben. In den meisten Fällen trauen sich die Schöpfer allerdings nicht, ganz tief im Dreck zu wühlen – was die Thematik eigentlich erfordert.

3 von 5 ★

«Wir Kinder vom Bahnhof Zoo» ist ab sofort auf Amazon Prime verfügbar.

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